Manchmal lässt sich auch ein Original noch übertreffen. Als diese Landes- und Universitätsbibliothek 1962 eröffnet wurde, war sie ein schöner Bau, der seinesgleichen in Bonn suchte. Ihr Innenraum war einzigartig in der damaligen Bibliothekslandschaft, der Blick auf den Rhein und das Siebengebirge geradezu beunruhigend schön.
Wenn wir heute den sanierten und umgebauten Bau erleben, so haben seine Lage und der Ausblick nichts von ihrer Faszination verloren. Aber das Gebäude selbst in seiner transparenten, weiß-grauen Schönheit, das bei Sonne etwas Schwebendes bekommt, ist konsequenter als früher, solider in seinen Materialien, überzeugender in seinen zurückhaltenden Farben, zum Besseren saniert also. Aber – ein guter Bau ist nur so gut wie die Menschen, die für ihn verantwortlich sind. Der alte Bau war über die Jahrzehnte verunstaltet worden, nicht nur durch die Ungeschicklichkeit im Umgang mit ihm, sondern auch durch die Tatsache, dass er zunehmend weniger den wachsenden Belangen an eine Bibliothek entsprach. Ich wünsche dem heutigen Bau eine bessere Zukunft.
„Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“, schreibt Luis Borges in „Die letzte Reise des Odysseus.“ Was für eine schöne Vorstellung: das Paradies als Ort, an dem alles von der Menschheit je Gedachte und Aufgeschriebene zu Haus ist. Derselben Vorstellung hing schon Cicero an, als er an Varro schrieb: „ Wenn Du einen Garten und dazu noch eine Bibliothek hast, wird es Dir an nichts fehlen“ (ad Familiares IX, Brief IV). Wo sich Natur als schöner Garten mit der Bibliothek als Schatzhaus des Wissens verbindet, da bleibt wirklich nichts zu wünschen übrig. Was anderes ist das Paradies?
Diese Paradiesvorstellung ist aus einem weiteren Grunde reizvoll: sie definiert das Paradies nicht als einen letzten Ort, wo Zeit und Raum in alle Ewigkeit aufgelöst sind. Indem sie die Metapher Bibliothek als Umschlagplatz des geistigen und kulturellen Erbes der Menschheit wählt und damit auf den Menschen als fragenden und forschenden Geist setzt, kommt Dynamik und Entwicklung in den Paradiesbegriff hinein, der sonst von unveränderlichem Stillstand geprägt ist.
Voltaire dagegen teilte die Vorstellung des Paradieses als Bibliothek nicht unbedingt. Er war vielmehr der Meinung, dass eine Bibliothek dem Betrachter bzw. Benutzer immer auch den Anschein des Furchtbaren biete ( Bauwelt 44,2oo8,14). Das Furchbare an diesem Bild kann einerseits als das Erschrecken auch eines Gebildeten darüber verstanden werden, was er alles nicht weiß von dem, was in einer Bibliothek aufbewahrt wird. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Bibliothek als Hort des Wissens nur die eine Seite ist und die Bibliothek als Ort des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft die andere. Voltaire könnte in diesem Sinne die Bibliothek als politischen Ort gemeint haben, an dem zu allen Zeiten Bücher aufbewahrt wurden, deren Inhalt einigen Menschen nicht passte, weil sie ihn für politisch untragbar, falsch, gefährlich, verleumderisch, obszön oder verderblich hielten. Bücherverbrennungen oder Bücherhinrichtungen sind ein die Entwicklung der Menschheit und die Existenz von Bibliotheken begleitendes Phänomen, das sich durch die gesamte Geschichte zieht. Bücherverbrennungen fanden zu allen Zeiten statt und reichen von China über Arabien bis nach Europa. Wie hellsichtig und geradezu prophetisch war Heinrich Heine, als er in seiner Tragödie Almansar 1821, in der es um die Verbrennung des Korans während der Eroberung Granadas durch die
christlichen Ritter ging, feststellte: „ Das war ein Vorspiel nur. Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“.
Was an den bisherigen Zitaten über Bibliotheken auffällt, ist die Tatsache, dass sie nie als konkrete gebaute Orte erwähnt werden, sondern als Stätten des Sammelns und Aufbewahrens, sozusagen als „geistige Tankstelle“, wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Bibliotheken einmal nannte. Bibliothek als Architektur kommt in den meisten Referenzen nicht vor.
In der Tat ist der Bau einer Bibliothek nicht das Wichtigste, wie manche kürzlich errichteten Häuser glauben machen wollen. Eine der berühmtesten Bibliotheken des Altertums, die von Assurbanipal in Ninive (668-627 v.C.), die auf über 25.ooo Tontafeln das Wissen des alten Mesopotamiens in Mythen, Liedern, Rechtsurkunden, Verträgen und Wirtschafts- und Verwaltungstexten barg, war in seinem eigenen Palast untergebracht, der zugegebenermassen gigantisch war. Da Assurbanipal ein leidenschaftlicher Sammler war, wollte er das Wissen seiner Zeit und Vorzeit nahe bei sich haben. Und da Wissen ganz konkrete Macht ist, passte er gut auf es auf.
Seine Bibliothek verfügte über das meiste dessen, was auch moderne Bibliotheken ausmacht: er ließ Abschriften von allen vorhandenen Texten seines Landes anfertigen und schickte Schreiber aus, sie zu notieren – die Übersendung von Pflichtexemplaren gab es noch nicht. Auf seinen Feldzügen ließ er andere Bibliotheken beschlagnahmen und verleibte sie seiner eigenen ein, er ließ Übersetzungen anfertigen und führte eine dokumentarische Ordnung ein. Nirgendwo in seiner grossen Tonbibliothek, die heute im Britischen Museum liegt, ist jedoch das Was und Wie des Ortes beschrieben, wo seine Schätze lagerten.
Auch die berühmte Bibliothek von Alexandria, die als Teil einer Forschungsstätte, sprich Museion= Musenheiligtum von Ptolemäus I (3o5-283 v.C.)) gebaut wurde und deren Leiter die bedeutendsten Gelehrten ihrer Zeit waren, ist nicht als Gebäude bekannt. Man weiß vieles über diese Bibliothek- 7oo.ooo Schriftrollen lagerten dort - über ihre rigorosen Aquisitionsmethoden – alle vor Alexandria liegenden Schiffe wurden nach interessanten Schriftstücken durchsucht, die Originale einbehalten und den Kapitänen eine Abschrift zurückgegeben. Aber über den Bau, der 48 v.C. abbrannte, als Cäsar auf seiner Suche in Ägypten nach Pompeius alle Schiffe im Hafen anstecken ließ und dabei auch eine Großteil der Bibliothek und ihrer Schätze in Flammen aufging, ist nichts bekannt. Selbst der Standort des Baus ist noch fraglich.
Wer sich heute in der Bibliothek „Europeana“ umsehen will, die vor wenigen Tagen eröffnet wurde, der braucht überhaupt keine Kenntnis mehr von Raum und Ort. Denn die Europeana ist Europas digitale Bibliothek mit virtuellen Toren für die Allgemeinheit. Sie ist ein vielsprachiges Internetportal, das im World Wide Web all jene Kulturschätze zugänglich macht, die von den Nationalbibliotheken, Museen und Archiven der 27 Mitgliedsstaaten digitalisiert worden sind. Diese Bibliothek, die vielleicht die Zukunft beschreibt, braucht kein Haus mehr, sondern als free floating in space, wie man im Deutschen sagt, nur die digitalisierten Daten der Kultur der europäischen Länder. Und genau das ist derzeit noch ihr Nachteil. Denn in Deutschland ist laut Frau Niggemann , der Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek, bisher nur ein Prozent der Bestände von Museen und Bibliotheken digitalisiert, während es in den Niederlanden und England schon zehn Prozent sind und in Frankreich immerhin 52 Prozent. Allerdings -während in Alexandria nur ein elitärer Kreis von Gelehrten Zugang zum Schatzhaus Bibliothek hatte, ist die Teilnahme an der Europeana kostenlos für jeden.
Die Bibliotheken des Mittelalters, der Renaissance und des Barock waren in Klöster und Schlösser integriert. Eigene Bibliotheksbauten hatten ihre Hoch-Zeit erst im 19.Jahrhundert, vor allem in den damals führenden europäischen Staaten England und Frankreich mit der Bibliothek Nationale in Paris (1867) und der British Library in London (1856). Es waren vor allem diese beiden eindrucksvollen Tempel des Wissens, die nicht nur durch ihre Sammlung bekannt waren, sondern auch durch ihre beeindruckenden Bauten auffielen.
In der Tradition von Bibliotheksbauten, die schon nach aussen den Eindruck von Wichtigkeit und nationaler Repräsentation wecken, sind auch die modernen Nachfolgebauten in beiden Ländern zu sehen. Dominique Perrault errichtete 1996 in einer geradezu zeichenhaften Form mit vier jeweils 79 hohen Ecktürmen seinen riesigen Bibliothekskomplex in Paris, in dem sich Anspruch und Macht der Grande Nation spiegeln sollen. Ärgerlich nur, dass diese Bibliothek auf Grund ihrer zahlreichen Mängel sowohl Angestellte als auch Besucher immer aufs Neue erzürnt. Der Neubau der British Library von Colin St.John Wilson funktioniert zwar und ist in der Formenvielfalt seiner architektonischen Hülle auch eindrucksvoll, ist aber auch das teuerste öffentliche Gebäude, das sich Großbritannien im 2o.Jahrhundert geleistet hat.
Anders die neue Bibliothek in Alexandria, die 2oo2 von dem damals unbekannten norwegischen Architekturbüro Snöhetta in Konkurrenz zu 65o weltweiten Büros fertig gestellt wurde. Der kraftvolle Bau ist ein diagonal geschnittener, aufrechter Zylinder mit einer eindrucksvollen Lesehalle von 16o Meters Durchmesser. Die für 8 Mio.. Bände ausgelegte Bibliothek ist jedoch mehr als gebautes Symbol einer glorreichen Vergangenheit gedacht, an die Ägypten anzuknüpfen sucht, denn als konkretes Dokumentationszentrum und Forschungsstätte. In einem Brandbrief an viele Institutionen und Museen weltweit bat die Verwaltung der Bibliothek 2oo4 um Überlassung von Büchern und Dokumenten aller Art, um überhaupt einen Grundbestand zusammenzubringen und arbeiten zu können.
Spektakuläre Bibliotheksneubauten liegen derzeit weltweit im Trend. Der Bau von formal exzeptionellen Bibliotheksräumen und – träumen ist in Konkurrenz zu zahlreichen Museumsbauten der letzten Jahre getreten, in denen Architekten eine aussergewöhnliche Gestalt mit der Funktion der Ausstellung von Kunst zu vereinen suchten. Gleiches versuchen Architekten nun auch auf dem Felde des Bibliotheksbaus. Norman Fosters Neubau der Philologischen Bibliothek der FU in Berlin hat die Form eines riesigen Gehirns und wurde bei seiner Einweihung 2oo5 als neues Wahrzeichen – the brain – gefeiert. Nicht weniger spektakulär, wenn auch kleiner ist Gottfried Böhms gläserne Geistespyramide für Ulm. Die Stadt hat sich inmitten ihrer schönen Altstadt getraut, kompromisslos modern zu bauen, ein Akt, der täglicher Gewöhnung bedarf, denn die Bibliothek ist und bleibt ein Fremdkörper in ihrer gläsernen Transparenz und Monumentalität, die alle Proportionen der umgebenden Bebauung sprengt .
Überhaupt kann man sich angesichts auffallender neuerer Bibliotheksbauten nicht des Eindrucks erwehren, dass die Architekten sie nicht nur als Häuser des Lernens und Wissens entworfen haben, sondern auch und vor allem als fotogene Räume für Film und Fernsehen. Doch an das riesige Bücherschiff- „Dinosaurier“- und die Leselandschaft mit den auf ihre Schützlinge wartenden Engeln, wie sich vermutlich viele von ihnen aus Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ erinnern – die Handlung spielte in der 1978 von Hans Scharoun gebauten Staatsbibliothek am Kulturform in Berlin- reichen nur wenige der derzeitigen Neubauten heran.
Nun haben sich die Anforderungen der Nutzer und die Aufgaben der Bibliothek in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert und die Baukunst versucht, darauf zu reagieren und neue Formen dafür zu finden, manchmal allerdings zu eigen- artige. Während Max Dudlers minimalistische Diözesanbibliothek in Münster herb und streng daherkommt, ist die von den sogenannten Schweizer Stararchitekten Herzog und de Meuron fertiggestellte Bibliothek in Cottbus eher schockierend, innen mit schrillen Farben wie „Quietschpink, Feuerwehrrot, Giftgelb und Phosporgrün „ und aussen den Eindruck einer „amorphen Gralsburg auf künstlichem Hügel „ (Gerwin Zohlen) vermittelnd. Es ist ein Bau ohne Vor- oder Rückseite, in Bögen und Schwüngen, mit einer diaphanen Fassade voll weisser Grafiti, die nicht Schrift oder Zahl sind, sondern abstraktes Ornament. Der Architekturkritiker Gerwin Zohlen beschrieb sie so: „ So zeigt sich das neue Elektronikzeitalter in der Architektur als Fanal und Fehlleistung zugleich. Beruhigend eigentlich, dass bei so viel Neubau manches gleich bleibt.“
Der international derzeit wohl spektakulärste Bibliotheksbau wurde am 9.September 2oo8 in Peking eingeweiht. Kaum hatte China die Welt mit seinen aufsehenerregenden Olympiabauten beeindruckt, folgte nach fast vierjähriger Bauzeit das Haus der Chinesischen Nationalbibliothek. Architekten sind die Deutschen Engel und Zimmermann aus Köln und Frankfurt. Das Gebäude von 77.ooo m2 ist 9o x 119 Meter groß und ähnelt eher einem modernen Flughafenterminal denn einem Bibliotheksbau. In einer einfachen, aber überzeugenden Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedert sich das riesige Haus in drei Bereiche: im Untergeschoß alle historischen Schriften der alten chinesischen Kultur, darüber im Erdgeschoß die Präsenzbibliothek und unter dem weit auskragenden Dach die digitale Bibliothek als Symbol der Zukunft.
Heutzutage sind Bibliotheken die mit am meisten genutzten öffentlichen Räume unserer Informationsgesellschaft. Sie sind schon lange nicht mehr reine Lese- und Arbeits-, sondern vor allem auch Lern- und Veranstaltungsorte. In diesem Sinne haben sie auch soziale Funktionen. Ein Bau, den ich als letzten erwähnen möchte, um ihre Vorstellungskraft nicht zu sehr zu strapazieren, ist die Hauptbibliothek am Gürtel in Wien. Ihrem Architekten Ernst Mayr ging es weniger um eine auffallende Baugestalt als um eine städtebaulich überzeugende Lösung. Sein Gebäude hockt in einem sozial problematischen Wohnbezirk mitten zwischen den Fahrspuren des Gürtels, unübersehbar, wie eine Brücke zwischen schwierigen Stadteilen. Es ähnelt einer massiven Haltestelle und verzeichnet mit seinem integrativen Angebot gute Erfolge. Bibliotheken mögen sich nicht immer rechnen, aber sie zahlen sich häufig aus.
In Deutschland gibt es derzeit ca. 9ooo öffentliche und ca. 25o wissenschaftliche Bibliotheken. Sie sind nichtkommerzielle Orte und können aus diesem Grunde auf marktschreierische Ankündigung und das Auffallen um jeden Preis verzichten. Das ist in den USA und in Großbritannien nicht – nicht mehr – der Fall. Ein zweitägiges Symposium im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt zum Thema „Vom Wissensspeicher zum Public Paradise“ am 3.-4.November 2oo8 ergab, dass sich Bibliotheken dort zunehmend „ an dem Standard der Ladenausstatter orientieren“ und daherkommen „wie Sportausrüster und Mobiltelefonanbieter“. Nicht selten liegen sie in Shoppingmalls oder sie zitieren das ästhetische Vokabular von Disneyparks oder Casinos à la Las Vegas. Mit ihrem architektonischen Auftritt sollen sie einen „Woweffekt „ produzieren, damit man sie überhaupt wahrnimmt. Die Tagung im DAM stellte die überlieferte architektonische Gestalt der Bibliothek angesichts ihres inhaltlichen Wandels auch für Deutschland infrage, machte jedoch deutlich, dass es „Jahrzehnte brauche, bis diese Veränderung eine verbindliche neue Gestalt herbeiführt“ (Bauwelt 44.o8.14-15). Wenn es diese neue Gestalt überhaupt geben wird.
Der Neubau der Unibibliothek Bonn des Berliner Architekten Fritz Bornemann zeigt sich, fast 5o Jahre alt, durchaus fit für die digitale Zukunft. Das Gebäude war das Werk eines echten Neuanfangs nach der Zerstörung der alten Bibliothek im Poppelsdorfer Schloß im 2. Weltkrieg, eines Neuanfangs auch an städtebaulich exponierter Stelle. Denn es ist mehr als ungewöhnlich, dass eine Unibibliothek aus dem Kontext des eigentlichen Universitätscampus herausgelöst und an exponierter Stelle als Einzelbau realisiert wird.
Das prestigeträchtige Grundstück der neuen Universitätsbibliothek mit ihren sowohl zur Koblenzerstrasse als auch zum Rhein ausgerichteten Fassaden stellte den neuen Bau in eine Reihe mit dem Arndthaus und den alten Villen am Rhein, die im 19.Jahhundert von Millionären als Privatsitze errichtet wurden. Was deren Gärten waren, ist bei dem sehr viel kleineren Grundstück der Unibibliothek die grosse Rasenfläche, die den Bau einerseits auf Abstand zur Strasse hält, ihm gleichzeitig aber auch die Distanz gibt, die ein Bau der Moderne mit seiner flächigen Fassade braucht, um zu wirken. Das Gebäude hoch über dem Rhein pochte an diesem Standort aber auch auf seine ebenbürtige Stellung zu dem damaligen Post- und dem Aussenministerium, zwei Bauten des Bundes, die 1962 bei der Eröffnung der Bibliothek schon selbstbewusst und repräsentativ am Rheinufer standen. Das Aussenministerum war damals der größte Verwaltungsbau Deutschlands und ließ das Provisorium Bonns vollkommen vergessen.
Die Grundstücke am und über dem Rhein hatten wie heute einen grösseren Stellenwert als andere. Und die Tatsache, dass die Universität 1956 Gelder locker machte, damit die Stadt Bonn wenigstens mit der Enttrümmerung auf dem Grundstück beginnen konnte, lange bevor das Land die Baumittel bewilligte, spricht nicht nur für das Selbstbewußtsein der Universität, sondern macht deutlich, dass der Neubau von Anfang an als mehr gedacht war als nur ein bibliothekarischer Neubeginn. Hier setzte die Universität für die Stadt Bonn und das Land nach aussen ein politisches Zeichen: wir sind wer, wir sind nicht nur Provisorium, eine Haltung, die die Institution der Universität mit ihrem guten Ruf, der auch im 2. Weltkrieg nicht gelitten hatte, glaubhafter machen konnte als die Stadt Bonn oder das Land.
Ärger gab es trotzdem, nicht zuletzt wegen der hohen Grundstückspreise und der Forderung des Düsseldorfer Wiederaufbauministeriums, vor Beginn des Baus noch einen zusätzlichen Grundstückstreifen von der benachbarten „Lesegesellschaft“ zu erwerben. Diese war im Prinzip verkaufsbereit, konnte sich mit der ablehnend eingestellten Universität aber nicht einigen. Gipfel der teilweise kleinkarierten Pokerpartie war , so Helmut Voigt in einem noch unveröffentlichten Manuskript „ die Drohung der Lese, auf dem zur Strassenfront gelegenen Trümmergrundstück eine Tankstelle nebst Werkstattbetrieb zu errichten, angeblich um aus den laufenden Pachtverträgen später den Neubau der Lese zu finanzieren.“ Aber eine solche Nachbarschaft wäre wohl tödlich gewesen. Die Grundstückkommission der Universität protestierte denn auch, die Stadt Bonn verhinderte die Genehmigung, die strittige Parzelle wurde 1957 erworben. Eine „geistige Tankstelle“ , wie Helmut Schmidt sie meinte, wäre aus diesem Vorhaben kaum geworden.
Wie hochrangig der Wettbewerb eingestuft wurde, macht die Wettbewerbsauslobung aus dem Jahre 1955 deutlich. Sie schrieb nicht nur einen zeitgenössischen Bibliotheksbau aus, sondern auch eine Architekturhaltung und einen Qualitätsanspruch: „Das Gebäude wird den Mittelpunkt des geistigen Lebens in der Bundes- und Universitätsstadt bilden“ – man beachte die Doppelbezeichnung. „Diese Stellung verpflichtet zu einer reifen
baukünstlerisch und bautechnisch vollkommenen Anlage“.
Diese Qualität, wenn auch nicht vollkommen, realisierte Fritz Bornemann mit einem Bau der Internationalen Moderne, der zurückhaltende Schönheit mit Zweckmässigkeit verband, bauliche Grazie mit ausgeglichenen Proportionen, Klarheit mit selbstbewusster Nüchternheit. Kein auftrumpfendes monumentales Gebäude, wie es Bibliotheken in neoklassizistischen Jahrhunderten gewesen waren, sondern ein schlichter Bau, der auf das Stadtbild an dieser Stelle Rücksicht nimmt. Dieser Bau Bornemanns war jahrelang – im Grunde bis 1992, als Günter Behnisch den Plenarsaal fertig stellte – das beste Stück moderner Architektur, das Bonn vorzuzeigen hatte. Ein zurückhaltendes Gebäude, aber nicht neutral, einfach, aber dennoch von einprägsamer Eleganz, unmissverständlich in seinem demokratischen Geiste und der entsprechenden Gestalt.
Die Bibliothek war ein architektonischer Neuanfang, der Westdeutschland den Anschluß an die internationale Architektur wieder finden ließ. Bornemann beschrieb seine Intention bei der Einweihung am 16.Juni 1962 so: „ In psychologischer Hinsicht versuchten wir den Bau als möglichst maßstäbliches Gefäß zu konzipieren. In Sinne eines echten Humanismus sollte der Mensch für diesen Bau den Maßstab geben und nicht übersteigerte Baumassen oder die Emotionen zu bewegter Bauformen. Also kein „Dom für Bücher“, kein Magazinturm als falsch verstandenes Symbol für die anonyme Stapelung der Bücher. Um einen stillen Innenhof und zugleich zur Rheinlandschaft orientiert, wollte der Bau durch Bescheidenheit, Stille und Aufgeschlossenheit der Kommunikation von Leser und Buch dienen. Dieser Kontakt zum Schrifttum.. und so zum Spirituellen schien uns das Leitbild für unsere Gestaltung zu sein.“
(Mitteilungsblatt der Universität 1.1o.1962, Jahrgang 12, Nr. 4, S.185
Fritz Bornemann, 1912 geboren und trotz zahlreiche guter Bauten der Nachkriegszeit vor allem in Berlin, ist heute fast vergessen. Er war durch die Amerikagedenkbibliothek und die Deutsche Oper in Berlin bekannt geworden. Seine einfachen Gebäude waren nie gefällig schön, sein Ziel war immer ihre selbstverständliche Integration in den Alltag. Er verstand sich als politischen Architekten, der sich unmissverständlich der Aufgabe stellte, am Zeitgeschehen baulich mitzuwirken. Er war ein Macher, kein Theoretiker und eine naive Bescheidenheit seine hervorstechendste Eigenschaft. Ein Architekt, der versuchte, als Person hinter seinem Werk zu verschwinden. Vor seinem Tode vernichtete er seine gesamten Pläne und Unterlagen. Er fand sich nicht wichtig genug, sein Ouevre einem Archiv anzubieten. Susanne Schindler und Nikolaus Bernau nennen das in dem einzigen, 2oo3 erschienenen Buch über Bornemann so: „Als Idealist schaffte er es, eine ästhetische Linie durchzusetzen. Es genügte jedoch nicht, um in die Bücher und Architekturgeschichte einzugehen.
Der zweite Name, der für den Neubau genannt wird, ist Pierre Vago. Vago, ein ehemaliger Mitarbeiter von Auguste Perret, dem wohl berühmtesten Architekten des 19.Jahrhunderts in Paris, war vor allem durch seinen 1954 begonnenen Bau der Wallfahrtskirche von Pius X in Lourdes bekannt geworden. Er war 1932 Mitgründer der UIA , der weltweiten Architektenvereinigung, und Chefredakteur der Zeitschrift „L’Architecture d’aujourdhui“. Ein kultivierter Intellektueller, international bekannt, ein Mann des Wortes wie der Architektur in der Tradition eines Le Corbusiers. Er hatte 1955 im Westberliner Hansaviertel mitgearbeitet, der westdeutschen Gegenarchitektur zur Ostberliner Stalinallee.
Bornemann und Vago hatten gleichberechtigt den 2.Preis gewonnen. Ein erster wurde nicht vergeben. Der nordrhein- westfälische Kultusminister entschied dann für Bornemann als den bauausführenden Architekten und Vago als seinen Berater. Zwei unterschiedlichere Baumeister hätte er nicht wählen können, und die Distanz von Paris, Bonn und Berlin sowie die Zusammenarbeit entpuppten sich denn auch als schwierig. Vago nannte Bornemann leicht herablassend „mon cadet“, und das bauliche Unterfangen hätte leicht daneben gehen können. Aber der französische Berater musste sein. Er war diplomatisch und politisch gewollt, ein geschickter Schachzug der Adenauer Ära, die die Annäherung der früheren Erzfeinde Frankreich und Deutschland vertiefen und Deutschland als Nation im europäischen Staatenbund stärken sollte. Dieser Aufgabe stellten sich beide Architekten, wenngleich sie eine echte Hypothek war.
Ganz lässt sich heute nicht mehr klären, was genau am Bau wessen Handschrift ist. Feststeht, dass weder Bornemanns noch Vagos im Wettbewerb preisgekrönter Entwurf gebaut wurde. Vielmehr entwickelte Bornemann eine Synthese aus beiden und nahm auch Anregungen anderer Arbeiten auf. Daß daraus kein gestalterisches Durcheinander wurde, zeigt Bornemanns Qualität als Architekt. Auf Vagos Anregung geht der auf Stützen gestellte und auf dem Flachbau aufliegende Verwaltungstrakt zurück, ein bei Le Corbusier beliebtes Motiv. Denn die eigentlichen Stars der modernen Architektur – Mies van der Rohe, Gropius oder eben Le Corbusier – waren nicht zum Wettbewerb eingeladen worden, da man ihre innovativen Ideen fürchtete und am Rhein nicht wollte.
In Bornemanns Ouevre gibt es sonst keinen so schwebenden Bau wie die Bonner Bibliothek. Die auffallende Eleganz und Leichtigkeit des Baus verdankt sich also wohl eher der „geschmeidigen Konzeption“ des Franzosen als der „funktionellen und technologischen Rigidität“ des Deutschen, wie es im Buch über Bornemann heißt.
Daß die Bonner Bibliothek, die man zu Recht als einen der ersten und besten Bauten einer „Demokratiesehnsucht“ in Deutschland bezeichnet hat, wieder hergestellt wurde und auch als Bibliothek wieder funktioniert, ist für Bonn ein grosser Gewinn. Dank an alle, die sich für die Rückgewinnung dieses schönen Hauses stark gemacht haben.
Festvortrag am 25.11.2..8 in Bonn