Die Aussicht, nach zehn Tagen Rom im April und fünf Tagen Florenz im September im November mit Venedig erneut eine von Menschenmassen besetzte Stadt zu besuchen und am liebsten auf dem Absatz kehrt zu machen, war groß. Aber Anfang November, wenn die Wolken tief hängen, der Himmel grau ist, es häufig regnet und acqua alta einem oft nasse Füsse beschert, scheint ein guter Zeitpunkt für Venedig. Die riesigen Kreuzfahrtschiffe mit täglich Tausenden von Passagieren sind weniger geworden, die mit Bussen anreisenden Touristen auch. Auch die afrikanischen Handtaschenverkäufer sind kaum noch zu entdecken, seit jedem Touristen beim Kauf einer ihrer billigen Fälschungen eine hohe Strafe droht, wenn er erwischt wird. Und wer dann noch mitten in der Woche fährt und das Wochenende meidet, kann tatsächlich so etwas wie ein „normales“ Venedig - wenn es das überhaupt noch gibt - entdecken.
Denn - machen wir uns nichts vor -Venedig ist inzwischen nicht mehr als eine Disneylandschaft, reine Fassade, eine Kulisse vor dem mehr oder minder finalen Zusammenbruch. Ein funktionierendes Gemeinwesen und eine lebendige, lebenswerte Stadt für eine Vielzahl von Menschen ist Venedig schon lange nicht mehr. „Wir sind Hausmeister in Leichenhallen und Dienstboten exotischer Vagabunden“, zitiert Petra Reski in ihrem bitteren Tatsachenbericht (FAZ 21.07.16) den aus Florenz stammenden Schriftsteller Giovanni Papine über die Lagunenstadt. Ein wenig milder formuliert es Susanne Mayer in die „Zeit“: „Millionen ergießen sich über die zerbrechliche Schönheit dieser Stadt …und die wenigen Bewohner, geflohen vor obszönen Investoren, die Palazzi in Kapitalanlagen verwandeln“.
Die Zahl der auf der Insel noch lebenden Menschen ist auf 55.000 gesunken, die meisten sind Alte. Man hört kaum noch Venezianisch, das sich vom Italienischen bekanntlich stark unterscheidet. Kleine Geschäfte, die den lokalen Bedarf decken, werden immer weniger. Dafür wachsen die Besucherzahlen weiter und die Gier auf Seiten der Stadt, Kasse zu machen. Die Schönheit Venedigs und sein Zauber gehen weiter am Mammon zugrunde.
Allein der Umfang der Kreuzfahrtindustrie hat sich in den letzten Jahren verzehnfacht. Die Folge: eine weitere Verseuchung der ohnehin seit langem durch vergiftetes Wasser, Elektrosmog und Feinstaub gefährdeten Lagune. Es ist kein Märchen, daß Venedig, die Stadt ohne Autos, in Italien die höchste Lungenkrebsrate hat.
Auch daß in der Stadt ohne Bestechung und ohne Korruption nichts läuft, ist allgemein bekannt. Wieviel Geld in den letzten fünfzig Jahren für die Sanierung und Modernisierung Venedigs gespendet wurde, weiß niemand, ebenso wenig wohin es geflossen ist.
„Reporting from the front“, dieser Slogan des Kurators Alejandro Aravena für die diesjährige Architekturbiennale könnte sehr wohl auch für eine Analyse Venedigs stehen, wenn man denn den Mut finden würde, die Stadt und ihre Situation einmal zum Thema einer Biennale zu machen.
Die totkranke Stadt wird aber aus touristischen Gründen auf Luxus getrimmt. Aus Schulen, aus Apotheken, aus Praxen, aus Läden und aus billigen Wohnungen werden Luxushotels und -appartements. Zehn Millionen Übernachtungen soll es inzwischen pro Jahr in privaten Unterkünften geben. Die Preise dafür sind exorbitant, und die Besitzer können von den Mieten bequem leben.
Die 1228 erstmalig erwähnte Handelsniederlassung Fondaco die Tedeschi, in der deutsche Kaufleute ihre zum Verkauf vorgesehenen Waren lagerten, ist das letzte Beispiel eines Luxusdenkens, das Venedig auf lange Sicht mehr schadet denn nützt. Benetton hatte den von außen eher unscheinbaren Bau an der Rialtobrücke für ein Drittel des Marktwertes erworben und den niederländischen Architekten Rem Kohlhaas damit beauftragt, dort ein Luxuskaufhaus zu errichten. Der Architekt hat auf den offenen Galerien um den bis unter das Dach reichenden Innenhof 42o kleine Edelläden errichtet. Kein bekannter Name fehlt.
Die Kritik machte vor allem an den roten Rolltreppen fest, mit denen Kohlhaas Besucher und Käufer von der Straße in den Bau und auf das Dach mit grandiosem Ausblick lockt. Doch ist an der Arbeit des Architekten eigentlich wenig auszusetzen, Es geht ja auch nicht in erster Linie um die Architekturr des Fondaco. Vielmehr ist das Konzept eines luxuriösen Warentempels in Venedig und an dieser Stelle falsch. Die vielen kleinen gehobenen Läden in den umgebenden Straßen, die jetzt schon nicht genug verdienen, werden durch die geballte Zahl der Luxusboutiquen in der Fondaco dei Tedeschi kaputt gemacht und in den Ruin getrieben, was man aber wohl kaum dem Architekten zum Vorwurf machen kann.
Auch die jährlich wechselnden Biennalen für Kunst und Architektur nutzen die Kulisse des Sehnsuchtsortes Venedig als Essenz von Kunst und Stadt. Aber auch sie ändern nichts an seinem schlechten Zustand. Die eher geringen Besucherzahlen beider Biennalen gehen in den Massen von Besuchern unter, die nie von den Ausstellungen gehört haben und die am Rande des Zentrums gelegenen Ausstellungsorte, das Arsenal und die giardini, nie gesehen und besucht haben.
Die diesjährige Biennale zum Thema „Reporting from the front“ war wie in jedem Jahr keine einheitlich am Motto orientierte Veranstaltung. Einige Teilnehmer kümmerten sich nicht im geringsten um das vorgegebene Thema. Selbst wenn die „front“ für jedes Land eine andere Lesart und Realität bedeutet, so fragte man sich doch, was das im Arsenal gezeigte riesige Modell Tadao Andos vom Kunstmuseum am Punta della Dogana mit den Wohnungsproblemen von Flüchtlingen an allen Fronten der Welt zu tun hat. Kaye Geipel nannte die Biennale zu Recht einen „Gemischtwarenladen“ (Bauwelt 16/2016). Das ist sie mit schöner Regelmässigkeit alle zwei Jahre.
Nach dieser Biennale sei nichts mehr so wie vorher, hatte Aravena versprochen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Im Eingangsbereich des Arsenals steht man noch überwältigt vor einer riesigen Installation, die aus dem Schrott der Gipswände der vorherigen Biennale erstellt wurde und denkt „richtig so“. Aber das Versprechen eines Ausbruchs der Architektur aus der Welt der Stararchitekten hin zum Verständnis von Bauen als sozialer Tat blieb ein unglaubwürdiges Lippenbekenntnis.
Die wenigsten Projekte auch in den giardini vermögen in den Köpfen der Besucher Denkprozesse in Gang zu bringen und neue, andere Bilder von Architektur zu erzeugen.. Das schaffte ausgerechnet der vielfach zu recht gelobte deutsche Pavillon. Wie ein paar kluge Wanddurchbrüche, durch die Sonne, Himmel und die Lagune ins Innere fluten konnten, den Raum des Naziausstellungsgebäudes verändern konnten, um Offenheit und Freiheit zu suggerieren, das war ein grandioser und origineller Coup mit sparsamsten Mitteln. Der Pavillon als Symbol „für das offene Land, das man für kurze Zeit war“(Bauwelt 16/2016) wird sicher nachwirken.
Außer dem Nordischen Pavillon von Sverre Fehn, dem unbestreitbar schönsten in den giardini, werden die Pavillons bei den Architekturbiennalen kaum je erwähnt. Das war diesmal anders, und es war ein Glücksfall für Deutschland.
Am Tag meines Besuches in den giardini waren diese voll mit Kindern im Vorschulalter. Was sich die Erzieher davon versprachen, hat sich mir nicht erschlossen, und auf meine Rückfrage gaben einige der Erzieher wenig Substantielles von sich.
Die Biennale ist vorbei, alles ist angebaut, man bastelt am nächsten Slogan für die Kunst.Auch mein Beschluß stand wie jedes Jahr fest:“ Nie wieder“. Aber ich kenne mich; im nächsten Jahr bin ich wieder in Venedig.