Wohnen sollte man genießen können

Genuss ist eine Sinneserfahrung, die mit körperlichem und geistigem Wohlbehagen verbunden ist. Ihre Steigerung ist der Hochgenuss, der nicht mehr zu überbieten ist.

Dazu fallen einem schönste Beispiele von Orten ein, wo Genusserlebnisse stattfinden, vom ins Meer gebauten Resort auf den Malediven über ein aufregendes Museum mit guten Ausstellungen bis hin zu einem exklusiven Feinschmeckerrestaurant mit französischen Spezialitäten.

Der Mensch, der diese Orte aufsucht, lässt sich verwöhnen und erlebt Gaumenfreuden, Lust und Vergnügen. In vielen Fällen begegnet er dabei einer Architektur und einer Atmosphäre, die er als schön empfindet, Und deshalb kommt er gern wieder.

Aber solche Momente des Genusses sind zeitgebundene Erlebnisse, Situationen, die sich wiederholen lassen, aber nicht von Dauer sind. Nicht zuletzt deswegen genießt man sie am stärksten als Ausnahme vom Alltag. Eine teure kubanische Zigarre raucht man genüsslich nicht jeden Tag, eine  zweistündige Luxusmassage macht nicht täglich Spaß, außer vielleicht im Urlaub und wenn es Besonderes zu feiern gibt.

Das ist beim Wohnen anders egal ob im eigenen Haus oder in einer Wohnung. Wohnen heißt Bleiben und bedeutet jeden Tag aufs Neue das Erlebnis von Rückzug und Heimat. Wer die Tür hinter sich zumacht, weiß sich bei sich zu Hause. Er erlebt Sicherheit, Geborgenheit, Selbstbestimmtheit. Daheim kann der Mensch tun und lassen, was er will, solange er niemand stört.

Gut zu wohnen ist nicht unbedingt an den besonderen Ort gebunden.
Es hat vielmehr mit Atmosphäre zu tun als mit ausgesuchter Ästhetik.
Beim Wohnen geht es nicht um den richtigen Stil, nicht um perfekte Wohnungseinrichtung. Es geht darum, dass der Bewohner sich hier wohl fühlt; denn Wohnen ist ein Standortgewinnen des Menschen gegenüber der Zeit. Es vermittelt Zuversicht und Selbstvertrauen. Niemand außer uns selbst muss im eigenen Heim, dass ein Spiegel unserer Selbst ist,  seinen Seelenfrieden finden.  Ein Architekturfotograf auf der Suche nach Ästhetik findet dort, wo man die Seele baumeln lässt, selten Eindrucksvolles zum Ablichten.
Die Orte, wo Genuss gefunden wird,  sind in den meisten Fällen extravagante Bauten, spektakuläre Umgebungen, erlesene Häuser. Die Ausgefallenheit ihrer Architektur betont die alltagsferne Atmosphäre und trägt dazu bei, Stress abzubauen und sich fallen zu lassen.   

In der Wirklichkeit des Wohnungsbaus sind dagegen eher traditionelle Tugenden gefragt, die Vitruv mit Selbstverständlichkeit, Angemessenheit und Beständigkeit beschrieb und die nach wie vor gelten. Hier geht es weniger um Außergewöhnliches als um das gute Normale. Es geht um kleine Qualitäten statt großer Gesten, um Sorgfalt und nicht um Angabe. Max Frisch schrieb dazu:“ Es gibt Räume, die uns atmen lassen, Zimmer, die uns jeden Morgen beim Aufstehen den Glauben an die Zukunft nehmen, Treppenhäuser, die man … mit Widerwillen erlebt.“
Wo jemand mit dem Kopf gegen die Wand läuft, wo einem die Decke auf den Kopf fällt, der Boden unter den Füssen wegrutscht oder sich jemand in die Ecke gestellt fühlt, alles sprichwörtliche Redewendungen,  kann man nicht von einem Wohnen sprechen, das man genießt.

Nun gibt es aber hinreißende Wohnbauten, die einzigartig sind. Dazu gehören die weißen Villen von Le Corbusier mit ihren fließenden Grundrissen oder die abstrakten , kunstvollen Häuserschönheiten eines Richard Meier. Dennoch möchten die meisten Menschen in diesen Bauten nicht wohnen. Oft sind es Personen, deren Leben nicht reich an Erfolgserlebnissen war. Der freie Grundriss verunsichert sie. Sie fühlen sich hier nicht frei, sondern verloren und orientierungslos. Die Häuser mit ihren hohen Wohnräumen, der weitgehenden Verglasung, mit Brücken und Umgängen, die jede Ecke einsichtig machen, machen ihnen Angst.

Die Besitzer dieser exquisiten Bauten sind in der Regel beruflich erfolgreich, Menschen mit ästhetischer Bildung und gesundem Selbstbewusstsein. Sie brauchen keine Wände und den begrenzten Raum als physische Stütze, aber der Normalbürger benötigt beides zum Anlehnen und sich sicher fühlen.

Die Wand ist bekanntlich das architektonische Gliederungselement schlechthin. Sie steht für Stabilität und Sicherheit, sie bildet mit Decke und Boden den Raum, in dem wir uns ständig bewegen und leben. Die Wand bedeutet Festigkeit, der Raum ohne gewohnte Wände aber irritiert
Es ist nicht jedem Menschen gegeben, in einem gebauten Kunstwerk zu leben, das übermächtig ist, das man kaum beeinflussen kann. Solche Bauten zwingen den meisten Menschen  eine ständige Selbstkontrolle auf, die man eigentlich zu Hause ablegen möchte. Gemütlichkeit und Wohnlichkeit, Merkmale eines entspannten Wohnens, sind hier verpönt.
Bekanntlich stellt sich jeder Mensch unter gutem Wohnen etwas anderes vor. Was der eine schön findet, lehnt der andere ab, was der eine geniessen kann, ist für den anderen eine Zumutung. Aber „ohne ein gehöriges Maß an Schönheit ist alles nichts“, so Keye Geipel (Bauwelt 1/2020/54).

Das Wohnensemble „einfach wohnen“ in Berlin von orange architekten ist nicht im klassischen Sinne schön, aber großzügig und unkonventionell elegant. Auf schwierigstem Grundriss gelang hier ein Haus aus klaren Baukörpern, einem aus drei Kuben bestehendem Atelierteil und einem Langhaus, das über Laubengänge erschlossen wird. Das auf Stützen stehende Ensemble zeigt transparente Leichtigkeit statt blockhafter schwere, überraschende bautechnische Lösungen und seltene, schöne Details. Die nicht alltäglichen Wohnungen sind ein Ort, von wo aus Bewohner ein gelassenes Verhältnis zur Welt aufbauen können.

Wohnungen zum Genießen müssen sehr unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Anforderungen erfüllen. Einerseits braucht es die Klarheit und Verständlichkeit einer Struktur, andererseits müssen sich Verstand, Gefühl und Geist des Menschen angesprochen fühlen. Der Mensch verlangt nach Ordnung und Vielfalt im Bauen, nach Phantasie, Poesie und Nüchternheit.

Wenn ein Mensch von schön spricht, so  ist damit gute Gestaltung in verschiedenartigen Formen gemeint,  gleichzeitig aber auch ein Stück erlebbarer Freiheit. Das bedeutet einen kreativen Erlebnisprozess im Gegensatz zum additiven Zur-Kenntnis-Nehmen von Dingen, einen Prozess, der mit Offenheit verbunden ist und nicht mit Zwang. Denn das Schöne in der Architektur ist nicht nur abhängig von Stilen, Techniken, Materialien, Stoffen, Inhalten, Nutzungen. Es ist auch abhängig von Anschauungsreichtum und Denkfreiheit.

Die Verzichtsarchitektur der 1970er und 1980er Jahre haben wir heute hinter uns. Das neutrale Raster im Wohnungsbau hat keine Chance mehr, was jedoch nicht bedeutet, dass überall eine vielfältige Gestaltung, Materialvielfalt und Farbigkeit anzutreffen ist. Bis zu dem Architekten, den Louis Sullivan fordert, ist es noch ein langer Weg: „Der Architekt…muss dem passiven Baustoff persönliche und geistige Qualität verleihen, er muss ihn verlebendigen. Tut er das nicht, ist er ein öffentliches Ärgernis und nicht, was er sein sollte, ein  öffentlicher Wohltäter.“

Ein anspruchsvolles, robustes Beispiel interessanten und kostengünstigen Wohnungsbaus in Frankfurt Oberrad, das bei vielen Menschen Anklang finden dürfte, stammt von schneider-schumacher. Die Struktur der drei bis viergeschossigen Zeilen ist kraftvoll und funktional, die Details der geschwungenen Treppen über die französischen Fenster und Balkone ruppig und einfallsreich. Die Fassade ist  außergewöhnlich und die kompakten Wohnungsgrundrisse überzeugend. Hier kann man Wohnen genießen.

betonprisma 110/2020