Gut wer sich bei Reisen frei von Erwartungen halten kann. Im Falle von Bhutan gelingt das kaum. Enttäuscht von der globalen Zivilisation und neugierig auf „Buddhas Bodenstation“ erwarten viele Bhutanreisende nicht nur ein exotisches Land, sondern auch spirituellen Mehrwert. In vielen Fällen inspiriert sie der Traum eines „Shangri-La“, eines mythischen Ortes im Himalaya , wo Menschen in selbst gewählter Abkehr von einer verkommenen Welt als Bewahrer von Kultur und Wissen leben. James Hilton hat dieses utopische Panorama in seinem schon 1933 erschienenen Roman „Lost Horizon“ verführerisch beschrieben.
Der Sehnsucht nach einem Ausnahmestaat, dem der Anschluß an die Moderne gelingt, ohne seine Seele zu verkaufen und seine Authentizität gegen eine weltweite Einheitskultur einzutauschen, kommt Bhutans geniale Tourismuspolitik entgegen. Um billigen Rucksacktourismus zu vermeiden, muß jeder pro Tag ca. 2oo Euro zahlen, bevor er das teuerste Visum der Welt erhält. Im Jahr werden nicht mehr als 25.ooo Touristen ins Land gelassen; da kann man sich schon privilegiert fühlen, auch wenn die Hotel- und Versorgungsqualität zu wünschen übrig lässt. Es sei denn man wählt den Luxus der wenigen sog.7 Sternehotels für 12oo E die Übernachtung.
Daß der Reisende auf sich selbst hereinfällt, erkennt der kritische Blick vor Ort schnell. Wer darauf nicht mit Enttäuschung, sondern dem Lachen der Selbsterkenntnis reagieren kann, bekommt den Kopf frei für eine interessante Reise in eine Gesellschaft, die den Sprung vom Mittelalter ins 21.Jahrhundert, ohne die Balance zu verlieren, gerade noch im Griff hat.
Bhutan, eingezwängt zwischen China, Nepal, Bangladesh und Indien, das seine Isolation erst 1992 aufgab und sich für Privatreisen öffnete, ist beeindruckend. Sein größtes Kapital ist die unberührte Natur und einzigartige Landschaft. Bis heute sind noch 7o % bewaldet und ca. 25 % als Nationalparks ausgewiesen. Wenn an einem klaren Tag in der Ferne die Kette des schneebedeckten Mount Everest und seiner 85oo Meter hohen Kollegen am Horizont steht, stockt einem vor Schönheit der Atem.
Das Land hat wenig über 7oo.ooo Einwohner und ist kaum grösser als die Schweiz, arm, ohne Rohstoffe. Die Infrastruktur ist entwicklungsbedürftig. Die einzige, über 1ooo Kilometer lange Strasse vom „entwickelten“ Westen in den noch ursprünglichen Osten, über die der gesamte Verkehr des Landes geht, gleicht einem einspurigen Feldweg mit Schlaglöchern, Steinschlag und Erdrutschen und ist oft tagelang geschlossen.
1972 war das Land eines der ärmsten der Welt. Das hat sich geändert. Die Analphabetenquote ist drastisch zurück gegangen, die einst weltweit höchste Säuglichssterblichkeit auch. Die Lebenserwartung ist seit 1982 von 43 auf 66 Jahre gestiegen. Es gibt eine kostenlose gesundheitliche Versorge, Internet, Telefon und Fernsehen. Viele Menschen haben ein Handy; im idyllisch gelegenen Kloster Chimi telefoniert der oberste Mönch während einer Zeremonie zu Ehren seiner Gäste laut und lang. Die Moderne scheint Buddha nicht zu stören.
Der visionäre vierte König der seit 19o7 regierenden Dynastie, Jigme Singye Wangchuck (1974-2004) investierte klug in Strassenbau, Elektrifizierung und Wasserkraft, die gewinnbringend nach Indien exportiert wird, von dem Bhutan politisch und ökonomisch abhängig ist. Die Wirtschaft boomt, seit zwei Jahren gibt es eine erste Universität. Noch ist Bhutan ein Ökomusterland, aber das Müllproblem wächst. Nur im Vergleich zu Indien und Nepal fällt es noch nicht so ins Gewicht. Schon fehlt es dem Land an billigen Arbeitskräften; Strassen werden von Indern gebaut, die unter katastrophalen Umständen leben. Bauholz wird importiert, aber angesichts vom Bau weiterer Flughäfen – bisher gibt es nur einen- und neuer Hotels für zukünftig weit grössere Touristenmengen und Wohnungsbau im grossen Stil wird man ohne die Abholzung der eigenen Wälder nicht weit kommen.
Enthusiasten wie den Schweizer Entwicklungsexperten Fritz Maurer, der in den 7oigern kam, sich in das Land verliebte und blieb, hat Bhutan leider zu wenige. Er baute eine Ofenfabrik, eine Käserei, eine Werkstatt für Landmaschinen, Gästehäuser, eine Weißbierbrauerei und entwickelte ein Kreuzungsprogramm für Kühe. Der König adelte ihn für diese alltagstauglichen Verdienste. Die buddhistische Religion, die das Land als Staatsreligion eint, ist allgegenwärtig. Überall Mönche, Gebetsfahnen und teils wassergetriebene Gebetsmühlen, die, bewegt, kosmischen Segen stetig fliessen lassen.
Der tantrische Buddhismus, den Guru Rinpoche, der allgegenwärtige Staatsgründer, im 8.Jahrhundert aus Tibet mitbrachte, ist keine entrückte Religion, sondern lebt von verwirrenden Dämonen und Gottheiten. Nur aus der oft abgebildeten körperlichen Vereinigung der Kraft des Mannes und der Weisheit der Frau ist Erleuchtung zu gewinnen – eine fortschrittliche Erkenntnis. Das führt zu phallusgeschmückten Häusern, deren Besitzern der heilige Narr, Lama Drukpa Kunley (15.Jahrh.), dem sein erigiertes Glied Hauptvergnügen war, besonders nahe steht. So ein Phallus kann auch zwischen heiligen Gegenständen und kitschigen Opfergaben auf dem Altar liegen und zum Segnen benutzt werden.
Der Mythos in Bhutan lebt in der Frömmigkeit der Bewohner und in bunten Klosterfesten. Das allerdings, was ein Besucher an konkreter Kultur besichtigen kann, ist spärlich. Bogenschiessen gibt es in jedem Dorf. Die vielfältigen Klöster gleichen einander; wer eines kennt, kennt fast alle. Ihre Bauten und kostbaren Malereien werden ständig restauriert und übermalt. Die Erhaltung eines Originalzustandes, wie ihn Europäer erwarten, verträgt sich nicht mit buddhistischen Gesetz, wonach alles ständige Veränderung ist. Nur die Dzongs, Bhutans einzige originale Architekturschöpfung, monumentale Verteidigungsbauten in der labyrinthischen Kombination aus Kloster und Verwaltungszentrum, sind einzigartig. Sie liegen spektakulär, aber auch sie sind sich zum Verwechseln ähnlich und immer auf alt gemacht. Lediglich im Wachturm von Trongsa, einem Teil des Dzong, haben österreichische Architekten 2oo8 mit einfachsten Mitteln und in schönen Raumkompositionen einen der wenigen modernen Innenausbauten Bhutans errichtet. Moderner Architektur steht man hier noch immer misstrauisch gegenüber. Dabei ist sie überall anzutreffen. Denn schöne alte Häuser aus Lehm und bemaltem Holz , die Landschaft und Städte bisher schmückten, werden zunehmend abgerissen und durch öde Betonbauten ersetzt.
Wer von Bhutan spricht, denkt weniger an ungelöste politische Probleme wie die der „bhutanischen“ Nepalesen als an „Bruttosozialglück“. Die unglückliche Formulierung prägte der vierte König vor fast fünfzehn Jahren auf einer Pressekonferenz, als er nach den Zielen für die Zukunft seines Landes gefragt wurde. Zunächst vergessen, wird diese Idee seit ungefähr fünf Jahren als magische Realität des Landes vor allem von Journalisten bemüht. Sir Michael Rutland, der englische Berater des damaligen Königs, erläutert, dass dieser ausdrücken wollte, dass „es ihm für sein Volk weniger um materiellen Reichtum als um Harmonie für die Zukunft“ geht. Was angesichts der Jahrhunderte langen Bürgerkriege im Land, dem Schicksal Tibets und der streitlustigen Nachbarn China und Indien verständlich ist.
Der erstaunliche König definierte auch die vier Säulen des „Bruttosozialglücks“: nachhaltige Entwicklung, Umweltschutz, Bewahrung der Kultur und eine verantwortungsbewusste Regierungsarbeit. Diese können von jedem bei einer Sprechstunde im Dzong der Hauptstadt Timpu eingeklagt werden. Neben diesen Plänen verfolgte er zielstrebig seit 1998 in mehreren Schritten die Einführung der Demokratie und „übte“ mit seinen Ministern und Untertanen gegen deren Protest 2oo7 eine Probewahl. Schließlich trat er zurück und ernannte seinen Sohn Jigme Khesar Namgy, der in Oxford studiert hat, zu seinem Nachfolger in einer konstitutionellen Monarchie. Bhutan ist damit die jüngste – und von der Entwicklung her - sicher erstaunlichste Demokratie der Welt.