Bauen, wo schon anderes steht

Von guten Lösungen

In unseren Städten ist Bauen im Bestand fast schon die Normalität. Über 50 % aller finanziellen Aufwendungen fliessen in Renovierungen, Sanierungen, in Wartung und Reparatur, in Konservierung, Rekonstruktion, Restaurierung, Translozierung und vieles mehr. Der Neubau im Bestand ist zwar nicht die Ausnahme, nimmt aber immer deutlicher ab. In wirtschaftlich benachteiligten Regionen mit grossen Leerständen ist dies ganz besonders der Fall.

Die Erhaltung unserer vorhandenen gebauten Umwelt ist sicher nicht nur unter ökologischen und energiesparenden Aspekten sinnvoll, sondern auch aus Gründen der Fortschreibung von Tradition und Atmosphäre eines Ortes. Dies gilt auch dann, wenn der Umbau eines vorhandenen Gebäudes wie in manchen Fällen teurer als ein Abriß und Neubau wird.

Die Erhaltung vorhandener Bausubstanz verbindet sich mit Begriffen wie Wiederverwertung, Stoffwechsel, Umformung und Kreislauf, wie Arno Lederer in einem Interview (Bauwelt 14/2o13) ausführt. Er spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von baulicher, sondern sogar von kultureller Nachhaltigkeit.

Wer allerdings seit Jahren als Leser der FAZ die engagierten Plädoyers Dieter Bartetzkos gegen die Vernichtung und den zunehmenden Abriß alter Bausubstanz durch Investoren liest, der weiß, daß „kulturelle Nachhaltigkeit“ zunehmend an Wert verliert und nicht selten als Ballast angesehen wird. Kommt hinzu, daß der Denkmalschutz und die ihn praktizierenden Städte bei immer knapperen Finanzen zunehmend erpressbar geworden sind und der Abrißneigung einflußreicher Bauherren wenig entgegen zu setzen haben.

Ein weiterer Punkt in dieser Auseinandersetzung aber wird von Dieter Bartetzko (FAZ 26.4.14) als negative gesellschaftliche Entwicklung beschrieben: “ Der zentrale Missstand aber ist die Gleichgültigkeit, ist das große Vergessen, das mit dem digitalen Zeitalter um sich greift: Wo im Zeichen des World Wide Web eine Neuigkeit die andere jagt und rasende physische wie geistige Mobilität zum Lebensstandard geworden ist, hat beständige Erinnerung keine Chance“.

Bauen im Bestand ist ein schwieriges und vielschichtiges Thema, nicht zuletzt und vor allem, wenn es um Neubau geht. Auf der einen Seite zeigt sich in der Architekturentwicklung ein ausgeprägter Hang zum Wiederaufbau von vor Jahrzehnten zerstörten Kirchen und Schlössern - die Schweizer nennen die Deutschen darin nostalgische Weltmeister. Auf der anderen Seite greifen Architekten bei Bauten im Bestand nicht selten auf die geschmäcklerische Verwendung historischer Zitate zurück und nennen das Qualität. Behutsames neues Bauen geht aber von einer Achtung, nicht einer Imitation der Tradition aus. Ihre Merkmale und Besonderheiten müssen akzeptiert und weitergeschrieben werden, was mit plumper Nachahmung nichts zu tun hat. Nur so bleibt Tradition ein Prozess und gerät nicht zum Stillstand.

Es geht um eine Haltung, die Karl Josef Schattner, der ehemalige Diözesanbaumeister aus Eichstätt, so beschreibt: „ Es gilt, mit eigenen Ideen ältere Bausubstanz geistig zu durchdringen und schöpferisch weiter zu entwickeln und neu zu interpretieren.“ Dafür ist Eichstätt auch zwei Jahre nach Schattners Tod noch ein aufregendes Beispiel.

All denjenigen Architekten, die glauben, bei neuem Bauen in alter Umgebung mit extravaganten und exzentrischen Bauten auffallen zu müssen, sei Hans Döllgasts Ausführung dessen empfohlen, was er „charakteristisch“ nannte: “ Ein guter Charakter heißt: Ich bin einer von vielen. In der Stadt bauen heißt für mich: keine Diva, sondern Teil eines Ganzen zu sein. Dass ich nicht aus der Reihe tanzen will, bedeutet ja nicht, daß ich nicht in Erscheinung treten darf. Wie wir miteinander umgehen, welcher Formen wir uns bedienen, um miteinander artikulieren zu können, das erfordert Kultur, Sprache, Niveau, Ausgleichen und Unterscheiden. Beides - das ist Charakter.“

Um dem Vorwurf der Nachahmung zu entgehen, sind viele Architekten in den letzten Jahren bei Erweiterungen der Faszination des Kubus verfallen: kantig, viereckig, teilweise kostbar verkleidet, aber insgesamt dekorlos, neutral, uniform.  In vielen Wettbewerben wurden die stringenten Würfel als Ergänzung der unterschiedlichsten Bauten mit dem 1.Preis ausgezeichnet und auch realisiert. „Neue Kisten kriegt das Land“, schrieb Bartetztko dazu (FAZ 2o.5.13) und bedauerte, daß selbst herausragende Architekten wie Norman Foster oder Volker Staab sich               bei ihren Museumsanbauten von der Würfelmanie anstecken liessen und  auf ein behutsames Eingehen auf die historischen Vorgaben verzichteten.
Ein wesentlich überzeugenderer Ausgangspunkt für geschicktes Bauen im Bestand ist die neuerliche Tendenz vieler Architekten,  Entwürfe auf der Basis einer Art „Urhaus“ vorzulegen. Ein Haus mit steilen Dach, mit geschlossenem Volumen und variationsreichen Fensterformen fügt sich eben sehr viel besser in ein Altstadttbild ein als ein Kubus.

Nach diesem Vorbild entstand in der Mitte von Altötting ein beeindruckendes Kultur- und Kongreßforum (Florian Nagler, 2013), „kein Krampf, wo sich Neuartiges zeigt, kein Gähnen, wo auf Gewöhnliches zurückgegriffen wird“ (Bauwelt 46/2013), ein selbstverständlicher, zeitgemässer Bau, der einfach schön ist. Oder das neue Ulrich- Gabler-Haus in Lübeck (Konermann, Siegmund Architekten, 2013) mit seinen steilen Giebeln, ein überzeugender Blickfang in Backstein in der Nähe der Marienkirche, frei von fader Imitation und ein exzellentes Vorbild für ortsspezifisches Bauen im Bestand. Oder das giebelständige, schlank aufragende Gebäude in der Mitte von Gelnhausen bei Hanau (Formelhaut), das schon 2oo4 errichtet wurde. Es ist eine glaubhafte Kreuzung aus Fachwerkhaus und Scheune, mit 52 gleich grossen Fenstern, die wie aus der weissen Aluminium- Fassade ausgestanzt wirken, provokant, aber überzeugend.
Auch als große Volumina vermögen diese „Urhäuser“ in der Umgebung einer historischen Altstadt zu überzeugen. Die kraftvolle Stadthalle in Gent (Robbrecht en Daem & Marie-JoséVan Hee, 2013) mit dem gewaltigen steilen Doppeldach fügt sich auffallend selbstverständlich in die Umgebung aus Barock und Renaissance  ein. Sie respektiert die Höhe des alten Rathauses, setzt sich aber in den Baumaterialien radikal von ihrer Umgebung ab.

Eines der überzeugendsten Ensembles der jüngsten Zeit , das geschichtliche Kontinuität und herausragende neue Architektur miteinander verbindet, ist der neue Bischofssitz in Limburg (Michael Frielinghaus 2013).  Doch als „Sündenbock für die Verfehlungen seines Bauherrn“ (Bartetzko) hat das Ensemble derzeit leider keine Chance der öffentlichen Anerkennung.

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