In den 1970er und 1980er Jahren war Prinz Charles die Persona non grata der englischen Architekturpresse. Der Hass des Prinzen auf die moderne Architektur, egal ob aus Beton oder Stahl, ob gut oder schlecht, ob niedrig oder hoch, hatte alle Elemente eines Kreuzzuges. Auch ich habe mich lange Zeit über seine rüden Pauschalurteile geärgert und versucht, mit kritischen Artikeln dagegen zu halten. Vergeblich. Denn die Tagespresse wartete geradezu gierig auf seine Zornesausbrüche und druckte alles, was er verlauten ließ, je gröber desto besser. So bezeichnete er die Pläne zur Erweiterung der Nationalgalerie am Trafalgar Square als „monströser Furunkel“ und den Hörsaal der Universität Essex, den die Fachwelt als hochmodern, gelungen und funktional exzellent befand, als eine „Mülltonne“. Die Skyline der City of London, die Jahrhunderte lang ausschließlich durch St. Paul’s Cathedral von Christopher Wren dominiert wurde, aber zunehmend von neuen Hochhäusern „verschandelt“ wurde, nannte er „pockennarbig“, was in mancher Hinsicht nicht unberechtigt war. Diese Liste von Kraftausdrücken ließe sich beliebig fortsetzen, denn Charles war äußerst einfallsreich.
Der gleichen Schimpfkanonaden kannte man von Mitgliedern des gewöhnlich äußerst zurückhaltenden Königshauses bisher nicht. Kein Journalist hätte sich ohne Konsequenzen für seine Berufsausübung solchen Wortgebrauch leisten können. Aber etliche Bauherren, Investoren und vor allem lokale Verwaltungen ließen sich von Prince Charles Wutausbrüchen beeindrucken und zogen ihre investierten Gelder und Planungen zurück oder änderten sie mindestens drastisch.
Obwohl ein Großteil der Presse den Prinzen für „einen miesepetrigen Spinner“ hielt, hatte das prinzliche Gekeife seine Wirkung. Denn auch Großbritanniens weltberühmte Architekten wie James Stirling, Norman Foster und Richard Rogers, von Charles als verdächtige Gesellen abgetan, waren von seiner Rufmordkampagne betroffen. Richard Rogers, der eine Zeitlang die Gegenoffensive gegen den Prinzen anführte, nannte Charles Architekturkrieg „sehr bösartig“ und „demokratisch fragwürdig.“
Das ist zweifellos richtig, denn Charles warf ohne zu zögern bei jeder öffentlichen Konfrontation oder wenn er um ein Urteil gebeten wurde, mit verletzenden Sprüchen nur so um sich. Allerdings gab es auch nicht wenige Menschen, die seine Urteile teilten und denen er aus der Seele sprach. Das Kuriosum ist, dass viele der in ihrem Stolz verletzten Stararchitekten früher oder später von der Queen geadelt wurden und den „Sir“ nicht etwa beleidigt zurückwiesen.
Die dürftige Ästhetik moderner Bauten ist Charles ein Graus. Er empfindet sie als eine Zumutung für die Menschen und erklärte es einmal so: „Dies ist nun einmal das Zeitalter des Computers und des PC, aber warum müssen wir zwischen und in den Bauten leben, die wie solche aussehen“? Prince Charles war und ist auch als Charles III., der am 6.Mai nach langer Wartezeit zum König gekrönt wird, ein Traditionalist, der Backstein dem Beton vorzieht, der niedrige Häuser und Reihenhaussiedlungen lieber mag als Hochhäuser, der für Gartenstädte schwärmt, in denen sich Architektur mit Natur eng verbindet.
Über alles geht ihm in Architektur und Stadtplanung der „menschliche Maßstab“. In seinem Buch aus dem Jahre 2005 „Grundsätze für nachhaltiges städtisches Wachstum, das die Tradition wertschätzt“, beschreibt er, wie seiner Meinung nach dieser menschliche Maßstab erreicht werden kann. Rücksicht der Bauten aufeinander, Einfügung in die Umgebung, kurz: Harmonie sind dabei seiner Meinung nach die wichtigsten Inhalte. Dazu kommen regionale Baumaterialien und kleinteilige Bauformen. Im Mittelpunkt steht für ihn der Mensch als Fußgänger.
Solches theoretisch zu formulieren, ist die eine Sache, es zu realisieren und damit auf Inhalt und Qualität nachprüfbar zu machen, eine andere. Doch der Prinz, den viele bloß für einen bunten Vogel hielten und für einen Träumer, entpuppte sich bei der Realisierung seiner Vorstellungen als knallharter Realist und Rigorist. Mit der Planung und dem Bau seiner Modellstadt Poundbury, die in Dorset nahe Dorchester in Südengland liegt, begann Charles 1993 der Welt zu beweisen, was in seinen Augen gute Architektur und Stadtplanung ist.
Diesen Akt kommentierte DIE ZEIT vom 5. April 2023 so: „Die machtlose Macht der Monarchie wirkte durch Charles wie geerdet“. Heute leben in Poundbury knapp 6000 Menschen. Charles entwarf die Häuser und ihre Ensembles selbst, assistiert von dem luxemburgischen Architekten Leon Krier, der wie der Prinz ein Postmoderner war. Beide verstanden sich prächtig in der Ablehnung moderner Architektur und Städtebaus,, beide galten als verrückt und verstiegen.
Poundbury ist heute in einer Art kleinstädtischem Gefüge eine Mischung aus Sozialwohnungen und Privathäusern, höhenbegrenzt, mit integrierten Grünflächen. Da Charles der Grund und Boden des Städtchens gehörte, konnte er sein Konzept unabhängig entwickeln und setzte es beinhart um. Eine Partizipation mit den Bauwilligen und der Baubehörde fand nicht statt. Selbst kleinste Einwände gegen des Prinzen Vorstellungen mussten ihm vorgelegt werden.
Herausgekommen bei der Umsetzung von Charles Traum ist eine Kleinstadt im klassizistischen Gewand, nicht sehr gut proportioniert, wenig elegant, aber auch nicht kitschig, ein wenig pompös und an Punkten unbeholfen wirkend. Poundbury ist für den Fußgänger geplant. Die Stadt kennt keine Ampeln, keine Verkehrsschilder, keine Zebrastreifen, keine Parkplätze. Aber der Verkehr nimmt zu, und damit wächst die Zahl der geparkten Autos. Roundabouts werden wie normale Strassen in beiden Richtungen befahren, was schwierig zu bewältigen ist. Der Verkehr funktioniert also nicht, wie Charles das geplant hat. In Zukunft muss sich damit aber nun Prinz William herumschlagen, denn als Charles König wurde, hat er Poundbury seinem Sohn vermacht.
Wer das Städtchen besucht, wenn keine Touristen da sieht, trifft wenig Menschen auf den Straßen. Das öffentliche Leben ist verhalten, die Leere wirkt ein wenig hochmütig. Poundbury wirkt altmodisch. Das liegt daran, dass der Prinz seinen Träumen ein Leben lang treu geblieben ist wie kaum ein anderer. Nicht dass er nichts dazu lernen will, aber er hält daran fest, dass seine architektonischen Strategien besser sind als andere. Und seine Vorstellungen eines menschenwürdigen Bauens teilen heute viele Menschen, die von moderner Architektur und Stadtplanung enttäuscht sind. Nicht wenige von ihnen glauben: „ Der Mann hat mehr Ahnung als alle Architekten und Professoren“. Nachdem Charles früher bekämpft und belächelt wurde, erhebt man ihn in den letzten Jahren „zunehmend in den Rang eines Propheten“ (Welt 11. März 1999). Das ist lächerlich, so intelligent und vielfältig er auch ist. Charles ist nur konsequent zukunftskonservativ und ändert seine Einstellungen nicht jede Woche.
Charles ist nicht etwa ein Mann ohne Eigenschaften, wie man lange annahm, sondern ein Mann mit vielen Eigenschaften. Er ist wissbegierig und stürzt sich in neue Aktivitäten, wenn sie in sein Spektrum passen. Er ist einer der ersten Grünen unserer Zeit, weil er die Umweltprobleme früher als andere begriffen und daraus Konsequenzen gezogen hat. Damit ist er vielen Menschen, die grün zu denken behaupten, um Jahrzehnte voraus.
Nach einem Studium der Archäologie und Anthropologie und einem MA in Cambridge gründete er 1970 mit 21 Jahren eine Stiftung, die sich um benachteiligte Kinder kümmert. Im selben Jahr hielt er seine erste, Aufsehen erregende Rede über Umweltverschmutzung und äußerte sich zu Fragen des Schutzes und der Bewahrung der Natur. Anfang der 1980er Jahre qualifizierte er sich als Biofachmann und produzierte eigene Lebensmittel aus ökologischem Anbau. Die Erlöse wurden gespendet. In den 1990er Jahren sprach er sich gegen genmanipulierten Anbau von Lebensmitteln in Großbritannien aus. Seit den 1980er fördert er Homöopathie und engagiert sich seit 2007 für den Schutz des Regenwaldes. Über seine Einlassungen mit fragwürdigen Esoterikern und über einige Vorlieben z.B. die Aromatherapie ebenso wie über sein turbulentes Privatleben möchte ich mich nicht äußern.
Man darf auf seine Regentschaft gespannt sein. Dass er allerdings „Unser König“ werden wird, wie DIE ZEIT vom 5. April 2023 als Überschrift eines sehr freundlichen Artikels formuliert, ist eher zweifelhaft.