Erinnerungsarchitektur à la Leipzig

Eine merkwürdige Universitätskirche in der Entstehung

Man hätte die Universitätskirche am Augustusplatz in Leipzig wie die Frauenkirche in Dresden rekonstruieren können, aber das wollte die Universität nicht. Ohnehin war das 1968 gesprengte, im 2.Weltkrieg nicht schwer beschädigte Gotteshaus bauhistorisch nicht so bedeutend wie die Dresdner Kirche.

Statt einer Rekonstruktion entstand nach den Plänen des holländischen Architekten Erick van Egeraat seit 2oo4 die Neugestaltung des Universitätscampus und auch die Kirche neu, allerdings als eine kaum überzeugende Mischung, die weder zitierte Geschichte noch beeindruckende Neuschöpfung ist, also weder Fisch noch Fleisch. Ein Führer (Reise Know How 2oo9)  beschreibt sie in treffenden Worten als „modernistisches Simulakrum, das in der Fassade des Neubaus (der Universität, die Verf.) zum Augustusplatz hin den Baukörper der Kirche als erinnernde Aufbauchung präsentiert“. Die Idee einer „Erinnerungsarchitektur“ hatte der Architekt im Entwurf mit den Worten verkauft, dass „man an Vergangenes erinnern, aber zugleich in die Zukunft verführen“ wolle.


Die von van Egeraat gestalteten Teile des neuen Universitätscampus sind weitgehend fertig, die Kirche ist noch Baustelle. Sie hätte schon längst  beendet sein sollen, verzögerte sich aber immer wieder. Zur Zeit wird ihre Fertigstellung mit 2o13 angegeben. Die zwischenzeitliche Insolvenz des Architekten mag einer der Gründe für den schleppenden Bauprozeß gewesen sein. Man wird jedoch den Verdacht nicht los, dass die Bauverzögerung auch mit der Unzufriedenheit über die Baulösung zu tun haben könnte.


Die Universitätskirche, auch Paulinum nach ihren Gründern, den Dominikanermönchen, genannt, wurde als Klosterkirche 1231 begonnen und 124o geweiht. Der gotische Bau mit dreischiffigem Langhaus, einschiffigem Chor und schönem Gewölbe fungierte nach der Gründung der Universität 14o9  als Begräbnisort prominenter Unimiglieder und ist seither eng mit ihr verbunden. Nach der Reformation wurde das Kloster 1539 aufgelöst und die Kirche ging 1543 ins Eigentum der Universität über. 1545 wurde das Gotteshaus  von Luther für protestantische Gottesdienste geweiht und diente seither sowohl als Kirche als auch als Aula der Universität. Während der Völkerschlacht 1813 war die Kirche Gefangenenlager und Lazarett.


Renaissance und Barock hinterließen an der Kirche und im Innenraum ihre Spuren. 1897 wurde die Kirche neogotisch umgebaut und ausgeschmückt. Nachdem die Sprengung 1968 von Seiten Ulbrichts veranlasst und durchgeführt worden war, schuf der Künstler Axel Guhlmann vor der Wand des Universitätskomplexes eine 34 m hohe Stahlkonstruktion, die den ehemaligen Kirchengiebel in Originalgröße nachbildete. Dieses Zitat der verloren gegangenen Architektur war zwar keine große Kunst, hielt aber in seiner Präsenz und Grösse die Erinnerung an die Kirche wach. Warum dies der Leipziger Bevölkerung nicht genügte, sondern sie „lautstark“ eine Wiederherstellung der Paulinerkirche forderte, sei dahin gestellt. Die Konkurrenz zu Dresden und der Wunsch, eine SED Sünde zu beheben, mögen gewichtige Gründe gewesen sein. Die Universität sah sich zu einem Kompromiß aufgefordert, und insofern wurden im Wettbewerb 2oo4 eben nicht nur Räume für die Fakultät für Mathematik und Informatik in Auftrag gegeben, sondern auch eine „neue“ Kirche in der historisch bewährten Kombination aus Aula und Andachtsraum.


„Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht der Asche“, sagte Karl Kraus einmal. In Leipzig scheint der Versuch daneben gegangen zu sein, an die bauliche Qualität der Vergangenheit anzuknüpfen oder etwas beispielhaft Neues zu realisieren. Was van Egeraat „Erinnerungsarchitektur“ nennt, ist in seiner formalen Überzeugungskraft derzeit zwar noch nicht abschließend zu beurteilen, doch die Chancen dafür scheinen eher gering.

Wer die Westseite des Augustusplatzes betrachtet, erlebt die Kirche mit dem Maßwerkfenster und der krönenden Rosette als einen integrierten Bestandteil der fertig gestellten Fassade der Universitätsbauten in ihrer vertikalen Gliederung aus hellem Kalkstein und aus Glas, die der Architekt auch für Budapest an den Anbauten der Stadthalle aus dem 18.Jahrhundert verwendet. Man erkennt das Zitat einer Kirche, steht aber verwirrt vor dem steilen, das Giebelfeld der Kirche überragenden „Pseudokirchendach“ mit seinen zahlreichen Fenstern, hinter denen in drei Stockwerken Büros für Mathematiker und Informatiker liegen. Abgesehen von dieser merkwürdigen Kombination der Nutzungen wirkt die Platzfront in ihrer Gestaltung eher manieristisch als selbstverständlich und überzeugend.


„Was äusserlich als Allegorie des Verlorenen daherkommt, vermengt mit dem Pathos von Sühne und Wiedergutmachung“ (Günter Kowa, FAZ 11.5.2o11)wird im Inneren nach Fertigstellung der Raum einer veritablen gotischen Hallenkirche, allerdings modern interpretiert. Doch diese „Kirche“ wird vorwiegend als Aula benutzt werden. Van Egeraat hat zwar die Maße und die Kubatur der zerstörten Kirche übernommen,  in diesem Sinne also wirklich eine Erinnerungs-architektur realisiert. Aber: das gotische Gewölbe wird als weisser Gipsguß von der Decke abgehängt. Dieser Gipsguß ist vorgefertigt, wird vor Ort jedoch per Hand nachgearbeitet, um Gleichförmigkeit zu vermeiden und das Ganze wie Handarbeit erscheinen zu lassen. Die Pfeiler des Innenraumes gehen zum Boden hin in Glas über und sollen „schwebend“ wirken. Dieser Absicht dient auch die Tatsache, dass der Architekt die Pfeiler der mittleren Joche wegen der Sichtfreiheit einfach abschneidet – tragen müssen sie ja nicht – so daß sie „wie Kronleuchter über den Köpfen“(Kowa) der zukünftig hier Sitzenden schweben, eine absurde Lösung. Van Egeraat erklärt dies mit einer „Ideenumsetzung“, nicht der „Materialumsetzung“ des historischen Baus. Dieser kryptischen Bemerkung fügt er hinzu: „Ich will die Schönheit sozusagen übertreiben“.


Vom Hauptraum der Kirche bzw. Aula abgetrennt ist der ständige „Andachtsraum“, der unmittelbar hinter der straßenseitigen Giebelfront liegt und ein Zwitter aus Gebets- und Ausstellungsraum sein wird. Hier sollen die alten, steinernen Gedenktafeln, die vor der Sprengung gerettet wurden, ausgestellt werden. Dieser „Resonanzraum der Geschichte“ und des Gebetes wird, um einsichtig zu sein, durch eine riesige Plexiglasscheibe von dem Raum der Aula abgetrennt. Wenn beide Räume funktional vereinigt werden, soll die von der Decke abgehängte transparente Scheibe weg geschoben werden können.


Was ist von van Egeraats Lösung zu halten? Der irritierte Besucher reagiert mit Befremden und legt van Egeraats Bau innen wie aussen unter geschmäck-lerisch ab.  Oder er hält es mit Adolf Loos, der einmal meinte, es sei immer besser, gut zu kopieren als schlecht neu zu entwerfen. Günter Kowa ist
da optimistischer und schreibt: „ Es wäre schon viel gewonnen, wenn trotz aller Kompromisse ein suggestiver Raum entstünde.“