Völkerwanderungen hat es immer gegeben. Nie jedoch waren so viele Menschen unterwegs auf der Suche nach einer neuen Heimat wie gegen Ende des römischen Reiches.
Die Bonner Ausstellung „Europa in Bewegung“ (15.11.2018 – 25.8.2019) versucht, diese Zeit und die Wanderungen ins römische Reich abzubilden. Das ist keine einfache Aufgabe, denn das Chaos der Wanderungen, die zwischen ca. 280 – 800 das römische Reich überfluteten, ist groß. Unterschiedlichste Völker und Stämme waren unterwegs, einige machten große Umwege, rasteten ein Zeitlang, bevor sie wieder aufbrachen.
Die Römer nannten die meisten dieser Völker mit dem Sammelbegriff „Germanen“, obwohl es eine solche Volksgemeinschaft gar nicht gab.
Der Begriff „Völkerwanderung“ wurde überhaupt erst im 19. Jahrhundert geboren aber er bezeichnete keine geschlossene Gruppe, weder in ethnischer, sprachlicher noch künstlerischer Sicht. Eine gemeinsame Identität gab es jedenfalls nicht.
Obwohl schwierig, ist die Bonner Ausstellung hochinteressant, denn es gelingt ihr, das Wenige, was die meisten Menschen zu diesem Thema wissen, in verständlichen Karten und an ausgesuchten Beispielen zu erweitern. Auch die vielfältigen Ursachen für die Wanderungen werden geklärt und - ohne darüber ein Wort zu verlieren – die Parallelen zur Migration heute in Europa verständlich gemacht.
Schwierig dagegen haben es die Kunstgegenstände, die die Unterschiede der Stämme und ihrer Traditionen verdeutlichen sollen. Ringe, Halsketten und Fibeln sind kleine, einander ziemlich ähnliche Gegenstände und bei aller Erklärung häufig nur von Archäologen zu unterscheiden.
Die Begleittexte der Ausstellung, die bis ca.1000 reicht, um Wikinger und Franken noch unter dem Oberbegriff Völkerwanderung unterbringen zu können, befassen sich in Einzelthemen mit „Das Erbe Roms“, „Wissen“, Glaube“, „Krieg und Diplomatie“, „Identität“ und „Verbindungen“ im Sinne gegenseitiger Kontakte. Die Ausstellungsgegenstände hier sind eindeutiger lesbar als in der Einleitung, auch wenn manche Artefakte weit hergeholt scheinen.
Wer die Karten im Einleitungsbereich mit den anstürmenden Fluten zahlreicher Stämme gründlich betrachtet, begreift, warum Westrom untergehen musste und warum Ostrom erst mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 zu existieren aufhört.
Das römische Reich war schon im 3.Jahrhundert zu groß, um es zu regieren. 293 teilte Diokletian es deshalb in vier Teile – Tetrarchie –
mit den Hauptstädten Rom, Trier, Split und Konstantinopel, um das Riesengebilde besser und effektiver zu verwalten. Doch diese Einteilung zerfiel schon 305, und diese Situation lud Invasoren geradezu ein.
Um 375 begann der sog. Hunnensturm aus Asien, und viele germanische Völker flohen aus Angst vor ihnen und mit ihnen im Rücken aus Osteuropa oder den Weiten Russlands nach Westen Richtung römisches Reich. Bis heute haben Forscher keine plausible Erklärung für den Aufbruch der Hunnen, die sich nach Vorstößen immer wieder zurückzogen, um nach einiger Zeit erneut nach Westen aufzubrechen.
Den zahlreichen germanischen Stämmen, die vor den Kriegern zu Pferde ins römische Reich flohen ging es zunächst nicht um die Eroberung oder gar Zerstörung Westroms. Sie wollten vielmehr an seinen Reichtümern, seiner Macht, seinem Wissensvorsprung, seinem besseren Leben partizipieren.
Die Goten, die 376 die römische Grenze überschritten, taten dies zunächst noch nach Abspräche mit dem römischen Kaiser, der sich jedoch nicht an seine Versprechungen, ihnen Land zu schenken, hielt. Den gotischen Führern reisst nach jahrelangem Warten der Geduldsfaden. Sie beginnen einen Krieg mit römischen Truppen und gewinnen ihn. 410 plündern sie Rom und 455 ein zweites Mal. Das ist für die Stadt der Anfang vom Ende.
Auch die Vandalen, nach den Goten die zweite grosse Gruppe an Invasoren aus dem nordöstlichen Germanien, durchqueren 406 das römische Reich, sie plündern Rom, ziehen weiter durch Spanien bis Nordafrika, wo sie in Karthago ein eigenes Reich gründen.
Die Langobarden, so genannt nach ihren langen Bärten, kommen von der unteren Elbe und tauchen 508 in Italien auf, gründen dort ihr Reich, dessen Ende erst im 8.Jahrhundert durch Karl den Großen kommt.
Alle diese Völker und zahlreichen kleinen Stämme fliehen mit den Hunnen im Rücken ab 375 Richtung Westen ins Römische Reich. Aber Angst ist nicht der einzige Grund ihrer Wanderung. Es sind ebenso die sich über Jahrzehnte verschlimmernden Lebensumstände, Missernten und Dürren. Hunger, Seuchen, eine hohe Sterberate treiben die Menschen aus ihrer Heimat fort. Forscher sprechen auch von einer „kleinen Eiszeit“, einer lange andauernden Verschlechterung des Klimas, nicht zuletzt ausgelöst durch Vulkanausbrüche wie 535-36 des Ilopango in San Salvador. Sein gewaltiger Ausbruch verdüsterte über eine lange Zeit den Himmel über Europa, weswegen man auch von den „dark ages“ in dieser Zeit spricht.
Das westliche römische Reich zerfällt im späten 5.Jahrhundert. 476 setzt Odoaker, der Anführer der gotischen Söldner in der römischen Armee, den Kaiser in Rom ab. Kurz darauf erobern die Goten unter ihrem König Theoderich die Stadt und herrschen in Italien. Die übrigen Reichsteile –ausgenommen das oströmische Reich – lösen sich in viele kleine Herrschaftsgebiete auf.
Die Bevölkerung dieser Gebiete setzt weiter auf das Erbe der römischen Kultur in Sprache, Sitten, Glauben, Kunst, Wirtschaft und staatlicher Ordnung. Das kostbarste Ausstellungsstück ist hier die sog. Cathedra, ein thronartiges, reich verziertes Möbel aus Holz und Elfenbein (5. – 6.Jh.). In diesem Sessel saß früher in Rom der öffentliche Amtsträger, jetzt übernehmen die Christen ihn für ihre Bischöfe. Wie lebendig im 7.Jahrhundert trotz des vorherrschenden Christentums römische Götter noch sind, zeigt eine fränkische Fibel mit der Stadtgöttin Rom, zu erkennen an ihrer Mauerkrone, die die Inschrift „Invicta Roma, untere felix“ trägt .
Die Abteilung „Wissen“ ist der ausgeprägten Schriftkultur der Zeit gewidmet. In den Folgestaaten Westroms wurde Latein, Griechisch und Arabisch gesprochen. Alte griechische Schriften wurden in Bagdad, dem kulturellen Zentrum nach 800 aufbewahrt. Schrift, die nur wenige Menschen dieser Zeit beherrschten, galt als magisch und geheimnisvoll.
Sie überlieferte Wissen, Tradition und ermöglichte Handel und Recht. Gelehrte waren häufig in einer Person Arzt, Politiker, Philosoph, Gelehrter und Theologe. Nicht selten sind diese vielsprachigen Menschen wie z.B. Chasdai ibn Schaprut (910 – 970) Juden und als Diplomaten unterwegs. Das auch alleinstehende Frauen weit umher kamen, zeigt die Pilgerreise der Egeria, die im 4.Jahrhundert allein und zu Fuß von Spanien aus unterwegs war zu den Stätten der Bibel und darüber ein noch heute erhaltenes Tagebuch führte.
Die Abteilung „Glaube“ klärt den Einfluss von Judentum, Christentum und Islam. Diese drei Religionen verbindet der Glaube an einen einzigen Gott im Vergleich zu der Vielfach der römischen Götter. Das Christentum ist nach 3oo im gesamten römischen Reich verbreitet. Aber erst die Gesetzgebung Justinians (527 – 565) trennt eindeutig zwischen Christen und Juden. Seit der 1.Hälfte des 7. Jahrhunderts verbreitet sich der Islam explosionsartig in der alten Welt, besonders aber in Spanien, wo bis 1492 ein Kalifat herrscht.
Die Nachfolger des römischen Reiches sind vielfältig und unterschiedlich in Glaube, Abstammung, Status und Sprache. Trotz aller Identifikation mit der römischen Tradition und Kultur fühlten sie sich aber keineswegs als Teil einer einheitlichen Gruppe. Dieses Bewusstsein musste sich erst mit der Zeit entwickeln. Dabei halfen Handel, Pilgerreisen ins Heilige Land und Diplomatie.
Für die Kaufleute waren sog. Routenplaner unerlässlich. Dabei handelt es sich um Karten in Papier oder Leder mit der Angabe von Flüssen, Bergen und Städten, Entfernungen, Übernachtungsmöglichkeiten, Stationen zum Pferdewechsel. Eine solche riesige Karte des gesamten römischen Reiches von den britischen Inseln bis nach Zentralasien ist der Höhepunkt der Ausstellung. Sie stammt wohl ursprünglich aus dem 4.Jahrhundert und wurde nach einer merowingischen Handschrift aus dem Anfang des 8. Jahrhunderts rekonstruiert. Die UNESCO hat Karten dieser Art, von denen es nur wenige gibt, zum Weltkulturerbe erklärt.