Zwischen Phantasie, Mut und Geduld

Ein kleines Psychogramm der Kreativität

Die Definition von Kreativität ist nicht eindeutig. Sie reicht von schöpferisch im weitesten Sinne bis zu der Fähigkeit, etwas nie Dagewesenes zu schaffen. Je nachdem ob der Begriff im Zusammenhang mit Wissenschaft, Forschung oder Kunst verwendet wird, meint er nichts grundsätzlich Gegenteiliges, dennoch klaffen grosse Unterschiede zwischen den Abgrenzungen. Es kommt hinzu, daß der Sinngehalt von Kreativität sich auf Grund der Veränderung unserer Gesellschaft ständig entwickelt und erweitert. Und was viele überraschen mag: Untersuchungen bezeugen, daß man Kreativität  lernen kann. Sie ist kein Gottesgeschenk. Auch Intelligenz ist keine notwendige Voraussetzung für Kreativität, aber sie stört natürlich nicht.

Wo man sich wesentlich einiger ist, sind die Eigenschaften, die ein kreativer Mensch braucht, um einfallsreich und erfinderisch, künstlerisch und produktiv genannt werden zu können. Die Liste dieser Wesensmerkmale ist lang: Ausdauer, Neugierde, Spontaneität, Autonomie, Offenheit, Originalität, Authentizität, ästhetische Sensibilität, Mut, Optimismus, Weitsicht, Unvoreingenommenheit, Selbstkritik und Selbstvertrauen, Unabhängigkeit und die Fähigkeit zur Grenzüberschreitung. Diese Aufstellung läßt sich beliebig ergänzen.

Wenn der Begriff der Kreativität auf Architekten angewendet wird, muß die Liste dieser Eigenschaften aber erweitert werden. Als Baukunst führt die Architektur zwar die Kunst im Namen, aber sie ist keineswegs zweckfrei wie diese. Um ein architektonisches Werk zu realisieren, braucht es Geduld, Pragmatismus und Durchsetzungsfähigkeit, um nur einige praxisorientierte Begriffe zu nennen. Dabei muß die Kreativität fast immer Kompromisse schließen. Walter Gropius nannte deshalb das architektonische Gestalten „in Fesseln tanzen“. Er meinte damit, dass ein architektonischer Entwurf nie lupenrein realisiert werden kann, dass es vielmehr Aufgabe des Architekten ist, Einschränkungen als Chancen zu begreifen und das Beste aus einer Aufgabe herauszuholen.

Wahre Virtuosen darin, eine Bauaufgabe auf höchstem gestalterischen Niveau trotz widriger Umstände zu realisieren, waren die Architekten der Renaissance. So schuf Francesco Borromini mit der Kirche delle Quattro Fontane an der Kreuzung der Via Quirinale und der Via delle Quattro Fontane auf Grund des kleinen und beengten Grundstückes ein Meisterwerk von so winziger Größe, dass es in einen der Vierungspfeiler des Petersdomes hinein passt.

Optimismus

Architekten müssen Optimisten sein. In der Malerei und  Musik mögen Pessimismus eine treibende Kraft und Schwermut eine Inspirationsquelle sein, in der Architektur nicht. Das hat ganz unterschiedliche Gründe: Der Architekt arbeitet für die Zukunft des Menschen, er arbeitet für seine Behaustheit, ein lebenswichtiges Grundbedürfnis, und er ist ein Weltverschönerer. Louisa Hutton formulierte es so: „Als Optimisten arbeiten wir stets daran, etwas verbessern zu wollen“ (Betonprisma 102/2016/7). Architekten glauben an das, was sie tun. Manchmal kann man gar von einem Sendungsbewußtsein sprechen.

Ausdauer

Die Umsetzung eines Entwurfes in gebaute Wirklichkeit verläuft selten ohne Schwierigkeiten. Die Kreativität eines Architekten stößt hier fast immer auf Probleme. Einmal sind es Streitfragen mit dem Bauherrn und den Behörden, einmal Probleme mit den Handwerkern oder der Finanzierung. Bei manchen Bauaufgaben sieht sich der Architekt vom Bauherrn allein gelassen; es gibt keinen wirklichen Austausch; er erfährt zu wenig über den Inhalt einer Bauaufgabe, um auf dieser Basis seinen Entwurf erstellen zu können. Ein spektakulärer Fall waren Günter Behnischs Parlamentsbauten in Bonn zwischen 1970 und 1990. Der unsichere Bauherr hatte keinerlei Vorstellungen zum Bauen in der Demokratie und wie sich die Bundesrepublik in Architektur darstellen sollte. Den Abgeordneten ging es um die Quadratmeterzahlen ihrer Büros, um nichts sonst. Die Standorte wechselten ständig, immer neue Wettbewerbe wurden veranstaltet, immer andere Entwürfe diskutiert. Der einzige, der sich mit oberflächlichen Überlegungen nicht zufrieden gab und auf Antworten als Gestaltungsgrundlage für seine Entwürfe  drang, war Behnisch. Er schien Bauherr und Architekt in einem und entwickelte eine Theorie über Demokratie als Bauherr. Und nur seiner Beharrlichkeit, ja seiner  Sturheit über zwanzig Jahre ist es zu verdanken, dass der großartige Plenarsaal, einer der besten Bauten der Nachkriegszeit, doch noch fertiggestellt wurde, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Parlamentarier schon den Umzug nach Berlin beschlossen hatten.

Mut

Wir alle würden gern einmal der Geburt einer bahnbrechenden Idee beiwohnen und genau wissen wollen, wie sie entstanden und warum sie so ist, wie sie ist. Wie hat sich in einem kreativen Gedankenprozeß die weltweit einzigartige Form der kleinen Bruder Klaus Kapelle von Peter Zumthor in der Eifel herausgebildet.? Wie kam die ultra subjektive Gestalt von Corbusiers Notre Dame du Haut in Ronchamp zustande?

Der Architekt, 1887 geboren, war weltberühmt, als er 1949  den Bau der Kirche als Auftrag bekam. Corbusier hatte sich zeitlebens an der rationalen Logik des Funktionalismus orientiert und seine sachliche Formensprache an den Zweckformen der Technik geschult. Und nun dieser Entwurf einer expressionistischen Kirche, die, konkav und konvex geschwungen, ganz unterschiedliche Fassaden und einen asymmetrischen Grundriss hatte. Der Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner bezeichnete die formal und symbolisch komplexe Kirche als „Manifest eines neuen Irrationalismus“. Was war Corbusiers Motivation für diesen Bruch mit seiner bisherigen Formensprache ? Wollte er noch einmal ganz neu und ganz anders anfangen? Nur etwas wie ein kreativer Ausbruch erklärt den Mut, den er aufgebracht haben muß, um die Kritik, er habe mit dieser Kirche seinen bisherigen Stil verraten, zu negieren. Kreativität geht oft seltsame Wege und erklärt sich selten.
Die Kirche in Ronchamp blieb jedenfalls einzigartig in Corbusiers Werk. Nur dem Beton als dominierendem Baustoff blieb er auch bei dieser Bauaufgabe treu.

Ästhetische Sensibilität

Von allen guten Architekten erwartet man ästhetische und räumliche Sensibilität. Genau das unterscheidet schließlich die guten von den durchschnittlichen Baumeistern. Dennoch gibt es auch unter den Meistern besondere Könner. Einer der faszinierendsten ist Tadao Ando, weil er in seinen Bauten auf unnachahmliche Weise westliche Moderne mit japanischer Tradition und Philosophie verbindet und so eine vollkommen neuartige Ästhetik hervorbrachte. Seine frühen christlichen Kirchen und minimalistischen Häuser sind ebenso einprägsam wie kraftvoll im Auftritt. Die einfachen geometrischen Grundformen seiner Wohnbauten entwickeln sich um Innenhöfe, die wie die Wohnräume Kaleidoskope des Lichtes sind. Durch schmale Schlitze fällt das Licht ein und durchwandert als messerscharfer Lichtstrahl während des Tages die Räume, die eine raffinierte Mischung aus Transparenz und Geschlossenheit darstellen. Tadao Ando inszeniert die nackten Betonwände aus Tafeln in der Größe von Tatamimatten. Je nach einfallendem Licht wirken sie hart und flächig oder fast plastisch-weich und durchscheinend. Diese Wirkung wird durch flache Wasserbecken, die er häufig verwendet, noch verstärkt. Wenn sich das Volumen seiner Mauern und Bauten im Wasser spiegelt, verdoppelt es sich; und wenn der Wind die Wasseroberfläche kräuselt, beginnt die Luft zu flirren.

Andos Ästhetik verdankt sich dem zauberischen Zusammenspiel und der Ordnung aus Licht, Wasser, Himmel und Materialien und ist von einer einzigartigen formalen Konsequenz, die sich in dieser Qualität in Europa bei kaum einem anderen Architekten findet.

Alle kreativen Architekten dürften über Selbstvertrauen und viele der genannten Eigenschaften verfügen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik muß nicht zwingend dazu gehören. Im Übrigen aber muß man über Kreativität diskutieren, denn Kreativität braucht Opposition.

Betonprisma 103/2016