Ethik ist wichtiger als Religion

Eine Buchbesprechung

Er ist 81 Jahre alt und will 113 werden. 1989 erhielt er den Friedensnobelpreis; der Journalist Franz Alt, der 15 Interviews mit ihm führte, sagt von ihm, er sei „der sympathischste Mensch der Welt“. Sein Leibwächter ergänzt: „Ich habe nichts zu tun, alle lieben ihn“. Sein herausragendes Kennzeichen ist sein Humor. Auf die Frage eines Intellektuellen :„Heiligkeit, wie komme ich ganz schnell zur Erleuchtung“? antwortete er: „Am besten gehen Sie zum Arzt und lassen sich eine Spritze geben“.

Eine Schweizer Journalistin kam von einem Interview mit ihm nach Hause, und der Sender meinte beim Abspielen: „Das kann man doch nicht senden, der lacht ja immer“. Der so Gescholtene wiederholte ohne Protest einige Wochen später das Interview, ohne es durch Lachen zu unterbrechen. Aber als man fertig war, lachte er ganze zehn Minuten lang und meinte:“ Ohne Lachen kann ich einfach nicht leben“.

In Europa, sagt er, würde er die Grünen wählen. Er geht täglich abends um 18.30 Uhr ins Bett, schläft bis 3.30, meditiert bis 7 Uhr, frühstückt dann und beginnt zu arbeiten. Seit 57 Jahren lebt er im indischen Exil. 2011 übergab er die politische Führung an Lobsang Sanguy und ist jetzt nur noch „einfacher Mönch“, dennoch aber weltweit bekannt und geachtet.

Der 14.Dalai Lama hat mit Hilfe von Franz Alt vor kurzem (2015) einen provokativen Appell publiziert: „ Ethik ist wichtiger als Religion“. Das kleine Buch (Benevento Publishing, ISBN 978-3-7109-0000-6) umfaßt nur 56 Seiten und wäre ohne die vielen Wiederholungen noch dünner geraten. Es liest sich schnell und verständlich, gerade auch, weil der Dalai Lama einfach formuliert und kein abgehobener Wortkünstler ist.

Das kurze Interview, das Franz Alt mit ihm über die These des Appells führt, sollte von jedem Heranwachsenden gelesen werden. Gerade zu diesem Zeitpunkt, wo im Namen der Religion wieder wie so häufig in der Vergangenheit Heilige Kriege geführt und mörderische Gewalt dabei gerechtfertigt werden, ist das Bekenntnis des Dalai Lama: „Ich habe keine Feinde.Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kenne“, einer der wenigen optimistischen Wegweiser in eine unsichere Zukunft.

Trotz aller Greuel, die China nach dem Einmarsch 1950 in Tibet begangen hat, glaubt er an einen Frieden zwischen den beiden Ländern und sieht Tibets Zukunft als  die einer friedlichen, gewaltfreien Zone.

Der Dalai Lama lebt vor, was er fordert. Er setzt auf Gewaltlosigkeit, Toleranz, „intelligente Feindesliebe“ und vertraut auf innere menschliche Werte wie Achtsamkeit, Mitgefühl und dem Streben nach Glück. Glück nennt er eine „Fähigkeit in jedem Einzelnen“. Die moderne Hirnforschung, von der er eine Menge hält, liefert ihm für seine Überzeugung gute Argumente. Ebenso der Grundgedanke aller Religionen, den er in der „Liebe“ sieht - was viele Menschen kaum teilen werden.

Der Dalai Lama rät, den anderen Menschen nach dem zu beurteilen, was Menschen eint, nicht was sie trennt, und den Feind in uns selbst zu suchen, nicht in dem Anderen. Dabei „ ist Fundamentalismus immer schädlich“.

Je länger er lebt, umso wichtiger wird ihm Ethik- er nennt sie „die Wissenschaft vom Glück“. „Ethik ist wichtiger als Religion. Wir kommen nicht als Mitglieder einer bestimmten Religion zur Welt. Aber Ethik ist uns angeboren“ und in der menschlichen Natur verankert. Er geht davon aus, daß Güte, Mitgefühl, Fürsorge die natürliche „Urquelle“ des Menschen sind. Daraus zieht er den Schluß, daß Menschen ohne Religion leben können, ohne die genannten inneren Werte auf Dauer  aber nicht. Und deshalb seine These: „ Ich denke, daß es besser wäre, wenn wir gar keine Religion mehr hätten. Alle Religionen und Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Zum Überleben der Menschheit ist das Bewusstsein der Gemeinschaft wichtiger als das ständige Hervorheben des Trennenden. Meditieren und die Besinnung auf die inneren Werte sei besser „ als ritualisierte Gebete“ .

Viele Menschen werden sich achselzuckend von den Aussagen und Forderungen des Dalai Lama in diesem kleinen Buch abwenden. Zu naiv, zu realitätsfern und zu utopisch, werden sie sagen. Die Sicht des Dalai Lama könne nicht verbindlich für alle Menschen sein.
Dennoch sind seine Thesen es wert, sich damit auseinander zu setzen.