Günter Behnisch, der Architektur des Bonner Plenarsaales, der 1992 bezogen wurde, als nach der Vereinigung von DDR und BRD die Rückkehr in die alte neue Hauptstadt beschlossen war, gilt als Schöpfer der Formel eines „demokratischen Bauens“. Nun gibt es zweifellos ein Bauen in der Demokratie mit besonderen Merkmalen, wie sie für die Demokratie wichtig sind. Aber „demokratisches Bauen“ gibt es so wenig wie eine demokratische Suppe.
Nicht von ungefähr ist dieser verwirrende Begriff der 1980er und 1990er Jahre inzwischen aus der Architekturdiskussion verschwunden. Heute ist eher von der architecture parlante die Rede, einer Architektur, die eine eigene Sprache spricht und in der Demokratie Merkmale aufweist, die z.B. im Bauen des Deutschen Kaiserreiches nicht vorkommen.
Es ist eine Besonderheit, dass Deutschland neben einer Vielzahl von Landesparlamenten, die nach dem 2.Weltkrieg gebaut wurden, zwei neuere Parlamentsbauten hat. Der eine ist der gläserne Plenarsaal von Günter Behnisch in Bonn, der heute für öffentliche Sitzungen benutzt wird und nicht mehr als Parlamentstreffpunkt fungiert. Der andere ist der Parlamentsbau in Berlin von Norman Foster, der hinter den historischen Mauern des alten Reichstages realisiert wurde. Nur seine gläserne Kuppel, in der Besucher den Abgeordneten im wahrsten Sinne des Wortes über ihren Köpfen herum steigen, zeigt die Transparenz, die Günter Behnisch seinerzeit für eine unverzichtbare Eigenschaft eines „demokratischen Bauens“ hielt.
Wie wer im Parlament sitzt und was das für die Demokratie heisst, interessiert gewöhnlich nur Bau- und Kunsthistoriker. Der Anblick der Sitzordnung der Abgeordneten und der Regierungsmitglieder ist zwar jedem Fernsehzuschauer vertraut, erfährt aber normalerweise wenig öffentliche Kommentare, geschweige denn bringt sie Menschen dazu, darüber zu sinnieren, was die Sitzordnung über die Demokratie aussagt.
Ein neues Buch „Auf der Bank, Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlamentes“ von Christoph Schönberger, Professor für Staatsrecht, Staatsphilosophie und des Rechts der Politik (Beck Verlag 2022) beschäftigt sich sehr gründlich und spannend mit Fragen dazu, was der Bau und die Inszenierung der sog. Regierungsbank für die Parlamente in aller Welt bedeutet. Der hochinteressante Text ist sorgfältig recherchiert und liest sich verständlich wie ein Krimi.
Schönberger stellt zunächst grundsätzlich fest, dass das Parlament ein zentraler Schauplatz der Demokratie ist. Das gilt seiner Meinung nach weniger für das Äußere eines Parlamentsbaus als für das Innere und dessen Organisation, ob die Sitzordnung von Regierung und Abgeordneten im strengem Gegenüber oder in einer Rundlösung realisiert ist, warum und wie die eine Gruppe höher sitzt als die andere und auf unterschiedlichen Stühlen, wieso Stufen eine Aussage zur Wertigkeit der im Parlament Versammelten machen. An diesen und anderen Gegebenheiten liest Schönberger Merkmale der Demokratie ab, und zwar so unterhaltsam, daß man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Er untersucht die Entwicklung unterschiedlicher Parlamentsbauten aus aller Welt, die Gründe für die streng konfrontativen Bänke der Abgeordneten in Großbritannien, warum es dazu kam, dass das Rednerpult den ehemaligen Thron, auf dem der französische König damals saß, erstmals ersetzte, Er beschreibt Plenarsäle ohne Regierung wie in den USA und konzentriert sich dann auf die Situation in Deutschland.
Das Reichstagsmodell, das die Weimarer Republik wie selbstverständlich nach der Kaiserzeit fortgesetzt hatte, stand auch 1948/49 Pate für das damalige Bonner Bundeshaus. Dieser Rückgriff auf die Vergangenheit sollte wohl die Kontinuität der Demokratie leisten, wie Schönberger vermutet.
Hans Schwippert, dem Architekten des Umbaus der Bonner Pädagogischen Akademie zum Plenarsaal, schwebte ein radikaler baulicher Neuanfang für die junge Republik vor, ein weitgehend verglaster Baukörper, durch den man das Parlament bei seiner Arbeit hätte beobachten können. Der Raum sollte kreisrund sein, mit einem von innen nach außen ansteigenden Plenum. Aber Konrad Adenauer war gegenüber einer derart drastischen Erneuerung misstrauisch und lehne das Konzept ab. Insofern folgte das erste Parlament nach 1945 dem bekannten Plenardesign des Reichstages. Glücklich allerdings wurde man mit dieser Lösung nicht.
In den 198ger Jahren ging es dann um den Abriss dieses Baus und einen Neubau an gleicher Stelle. Günter Behnisch griff auf die kreisrunde Lösung zurück und hoffte, damit eine antihierarchisch-egalitäre Versammlungsform zu realisieren, wie sie die Sage von Arthurs Tafelrunde berichtet. Alle Personen sind gleichberechtigt und sitzen auf gleichem Niveau. Aber ein solches Rund bringt eine Fülle von Sicht- und Kommunikationsproblemen mit sich und macht eine Einteilung nach linken und rechten Parteien schwierig.
Im Reichstagsgebäude schließlich fand die Ordnung des Raumes zurück zu dem Vorbild des 19. Jahrhunderts. Schönberg nennt sie eine „Plenararchitektur des als ob“. Er erklärt das so: „ Die Bundesregierung sitzt im Bundestag als ob sie von ihm getrennt, ihm nicht verantwortlich und aller Parteilichkeit entzögen wäre. Aber in diesem architektonischen „Als Ob“ sind doch zugleich manche Eigenheiten des deutschen Verfassungssystem und der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Erwartungen in dessen Umfeld gespeichert. Wenn man überdies bedenkt, daß die einzige chancenreiche Alternative zu diesem Plenardesign in der Bundesrepublik der Kreis war, der sich als Symbol von Einmütigkeit und Harmonie inzwischen auch in den Plenarsälen einiger Landtage etabliert hat, wird man in der Sitzordnung des Bundestages erst recht nicht allein ein architektonisches Gegenbild zum tatsächlich praktizierten Regierungssystem sehen. Eine Regierung, die einen überparteilichen Konsens zu verkörpern beansprucht und für ihr Tun nur schwer verantwortlich gemacht werden kann, ist der Bundesrepublik trotz und gerade wegen der parlamentarischen Regierungssysteme nicht fremd. Von eben dieser Regierung, der bürgerlichen Verwandten der Monarchie, erzählt ohne Worte der Plenarsaal des Deutschen Bundestages im Reichsgebäude.“