Gottfried Böhm wurde am 23.Januar hundert Jahre alt. Zu diesem Anlass erschien eine außergewöhnlich große Anzahl von Artikeln über ihn, gab es unzählige Veranstaltungen, Vorträge, Rundgänge und Ausstellungen und das Gelöbnis der Stadt Köln, wenn sie dem Architekten schon keine Ehrenbürgerschaft verleihen könne - der Rat sucht zunächst nach einer Frau -, dann doch wenigstens in Zukunft ein Gottfried Böhm Stipendium auszuloben.
Die meisten Architekten dürften sich nach so viel öffentlicher Ehrung sehnen, erhalten sie aber nie. Doch in diesem Falle verdiente sie der Jubilar mit Fug und Recht. Denn Gottfried Böhm ist einer der erfolgreichsten und kreativsten Architekten der Nachkriegszeit. Niemand hat so viel und so vielfältig gebaut wie er. Nicht umsonst ist er der einzige deutsche Architekt, dem der „Pritzker-Preis“, der Nobelpreis für Architektur, verliehen wurde. Ein Bildband, der kurz vor seinem Geburtstag herauskam, zeigt alle „Sakralbauten der Familie Böhm,“ aber der Prachtband für 110 E will nicht so recht zu dem eher bescheidenen Goffried Böhm passen (Verlag Schnell & Steiner Regensburg).
Böhm baute in seinen frühen Jahren vor allem Kapellen und Kirchen. In seinem ersten Bau, der 1947 errichteten Kapelle in Köln „Madonna in den Trümmern“, die heute von dem aufregenden Kolumba - Museum Peter Zumthors eingehaust ist, las am Geburtstag der Erzbischof von Köln, Kardinal Woelki, dem Architekten zu Ehren eine Messe.
Woelki sprach von „dem Neuen“ in Böhms Oeuvre, das er wie sein Vater Dominikus „aus der Tradition“ entwickelt habe, ein Qualitätsmerkmal, dessen Umsetzung man auch der katholischen Kirche wünscht. Als Antwort auf die Frage nach der Ursache von leeren Kirchen ließ Böhm wissen, das er es für richtig halte, dass „eine Frau als Priester“ tätig sein könne (FAZ 27.1.20)
Mit kirchlichen Würdenträgern als Auftraggeber und Bauherr hat sich Böhm Zeit seines Lebens gut verstanden. Ein besonderes Verhältnis gab es zwischen ihm und dem Kölner Kardinal Frings als Bauherr von Neviges, der zweitgrößten Kirche in NRW nach dem Kölner Dom. Die expressive Monumentalplastik dieses Kirchenbaus wurde 1967 fertig und ist auch nach über fünfzig Jahren ein Höhepunkt in Böhms Werk, ein einzigartiges Experiment in Sachen Konstruktion und Material, das an Größe und Zeichenhaftigkeit alle Architektur der Gegenwart in Deutschland in den Schatten stellt. Und bis heute ist Neviges ein Ort der Provokation geblieben, so geheimnisvoll und fremdartig wie zum Zeitpunkt seiner Entstehung.
Über einem Zentralraum auf unregelmäßigem Grundriss von 50 x 37 m durchdringen und schließen sich drei unterschiedlich hohe Pyramiden wie ein Gebirge bis zur höchsten Spitze zusammen. Diagonale und abknickende Wände übersteigen einander und werden wie von einer unsichtbaren, vertikalen Achse zusammen gehalten. Das freitragende Betonfaltwerk, das wie aus einem monolithischen Guss erscheint, hält den Bau in seiner Schwere am Boden und vermittelt doch den Eindruck einer in die Höhe strebenden Schwerelosigkeit. Die großkörnige Materialstruktur des Betons und die heute nachgedunkelten Wände erinnern an ein kristallines Naturdenkmal. Dennoch zeugt der virtuos gestaltete Raum in seiner scheinbar rohen Materialität von einer schöpferischen Passion, die demonstriert, was große Baukunst vermag.
Dieser Kirchenraum ist Zeichen und Erzählung in einem. Neviges inszeniert einerseits das Bild von Petrus als Fels, auf den Christus seine Kirche baut, und ist gleichzeitig die Allegorie des Mantels der Maria, unter dem die Gläubigen „Schutz und Schild“ finden. „Niemand kann sich dem Erlebnis dieses machtvollen Raumes entziehen“, schrieb einmal der Architekturkritiker Manfred Sack.
Im Deutschen Architekturmuseum, das 2003 das zeichnerische Oeuvre Böhms angekauft hat und große Teile des Werkes seines Vaters Dominikus dazu bekam, wurde Böhms Geburtstag mit einigen großartigen Innenaufnahmen von Nerviges gefeiert, die über die gesamte Höhe des Auditoriums gezogen wurden und den Zuschauer geradezu in den Kontext des Kircheninnenraumes hinein lockten.
Die Fotos betonen die fast mystische Atmosphäre des Kirchenraumes, in dem die 2003 auf einer Synode des EKD aufgestellten Forderungen an den Kultraum Kirche eindringlicher als anderswo umgesetzt sind:
„Wer eine Kirche aufsucht, betritt einen Raum, der für eine andere Welt steht. Ob man das Heilige sucht, ob Segen oder Gottnähe oder schlicht Ruhe, ob ästhetische Momente im Vordergrund stehen, immer spricht der Raum durch seine Architektur… Kirchen sind Orte, die Sinn eröffnen und zum Leben helfen können, Orte der Gastfreundschaft und der Zuflucht. Sie sind Raume, die den Glauben symbolisieren, Erinnerungen wach halten, Zukunft denkbar werden lassen, Beziehungen ermöglichen, zu sich selbst, zur Welt, zu Gott.“
Gottfried Böhm ist ein grosser Architekt, aber auch er hat Bausünden realisiert, z.B. den WDR in Köln oder die Ulmer Stadtbibliothek in Gestalt einer riesigen Glaspyramide, die architektonisch vielleicht interessant ist, aber städtebaulich den Maßstab der eher engen Innenstadt völlig sprengt.
In Neviges hatte Böhm von Anfang an Schwierigkeiten mit der Ausführung des großen Faltdaches, das schon kurz nach seiner Fertigstellung undicht war. Das Stahlbetondach war mit einer Kunststoffbeschicihtung versehen, durch dessen Risse Regenwasser in das Dach eindrang und zur Korrosion der Armierung führte. Die Ausstellung im DAM widmet der Sanierung dieses Daches viel Platz. Denn über Jahrzehnte beeinträchtigte das kaputte Dach und einige mehr als unbeholfene Reparaturen die ästhetische Wirkung der gesamten Kirche.
Auf der Suche nach einer dauerhaften zukünftigen Lösung entwickelte der Architekt Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selbst Liebhaber großer Betonbauten wie der Moschee in Köln, gemeinsam mit der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule Aachen speziell für den Mariendom eine innovative Methode, die zunächst im Labor getestet wurde. Er beschreibt sie so: „Die neue Schutzschicht besteht aus drei Lagen Spritzbeton mit zwei Einlagen Carbonfasergewebe, einer Bewehrungsmatte vergleichbar“.(Monumente 1/20/24).
Bei einer geringen Dicke weist dieser Textilbeton eine hohe Zugfestigkeit auf und verteilt die unvermeidlichen Konstruktionsrisse so fein, dass kein Wasser eindringen kann. Vielleicht ist die Hoffnung berechtigt, das der großartige Kirchenbau in Zukunft nicht mehr als Baufehlerruine wahrgenommen wird, sondern als das, was er ist, nämlich eines der beeindruckendsten Zeugnisse der modernen Architektur.
Ein schöner Teil der DAM Ausstellung ist ein ruppiges Modell des Mariendomes, das noch im Besitz der Familie Böhm ist und bei der Übergabe des Böhmischen Werkes im Jahre 2003 wohl vergessen wurde. Es ist eine schöne Vorstellung, daß es dieses kleine Modell war, das den damals schon halbblinden Kardinal Frings beim Ertasten der Gestaltung zu der Beauftragung Böhms in Neviges führte.
Viele von Böhms Kirchen aus den letzten Jahrzehnten werden für den Gottesdienst nicht mehr benötigt. Dazu gehört auch Neviges. Der Abriss einer Kirche ist dem Architekten allerdings bisher erspart geblieben. Gläubige werden immer weniger, aber „wenn kein Umdenken stattfindet, ist für die kommenden Jahre ein starker Anstieg von Abrissen zu befürchten“, so der Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards (Christ in der Gegenwart vom 28.1.20, S.41).
Abriss oder Umnutzung zu Büros, Konzerthallen, Galerien, Wohnungen, Kindergärten oder Restaurants ist dann die Lösung. Eine Umnutzung nur für kulturelle oder soziale Zwecke wird von vielen Befürwortern bevorzugt, wird sich ohne wirtschaftliche Gewinne auf Dauer aber nicht halten können.
Gerhards spricht von einer „Identität im Wandel“ und weist darauf hin, daß heute auch nicht-religiöse Menschen eine „Sehnsucht nach Orten der Unendlichkeit“ verspüren. Ob das Kirchen in Zukunft retten hilft, ist die Frage.