Dies ist keine Besprechung. Es ist die Wiedergabe eines 2017 entstandenen Buches, das mich erschüttert hat. Die Autorin ist eine bekannte Journalistin und Schriftstellerin. Sie wurde 1981 in Marokko geboren, wächst dort auf, studiert dann in Paris, wo sie heute lebt. Sie ist Beauftragte Macrons in einer Organisation von 84 französisichsprechenden Ländern zur Pflege der französischen Sprache.In ihrem schonungslosen Buch analysiert sie die Rolle der Frau in Marokko und die Sexualität von Frauen in der islamischen Gesellschaft.
Wir alle kennen die Märchen aus 1001 Nacht. Im frühen Mittelalter, als diese Texte entstanden, galt die arabische Welt als Hochburg der Liebeskunst. Sexualität wurde frei und ohne Tabus praktiziert. Davon ist heute nichts geblieben. Insofern ist dies kein erfreuliches, sondern ein schonungslos offenes und bitteres Buch.
Ich enthalte mich bei der Wiedergabe jeder eigenen Meinung zur Rolle der Sexualität im Islam. Ich weiß zu wenig darüber. Stattdessen gebe ich die Inhalte des Buches in vielen Zitaten wieder. Die interviewten Frauen sprechen ungefiltert wie die Autorin selbst. Positive Entwicklungen werden nicht verschwiegen, sind aber die Ausnahme.
Zur Situation
Geht es nach der Regierung, so ist „Marokko ein tugendhaftes und anständiges Land, das sich vor der westlichen Dekadenz und der Freizügigkeit seiner Eliten schützen muss.“ Die daraus resultierende Realität würde bedeuten, „ dass jeder, der nicht verheiratet ist, nie Geschlechtsverkehr gehabt hat, dass es Prostituierte und Homosexuelle nicht gibt, ebenso wenig Vergewaltigung oder Abtreibung“. Art. 490 des Strafgesetzbuches erlaubt „Haftstrafen von neun Monaten bis zu einem Jahr für alle Personen unterschiedlichen Geschlechtes, die Sexualverkehr haben, aber nicht verheiratet sind. § 491 stellt fest, dass jede verheiratete Person, die des Ehebruches überführt wird, zwei Jahre Gefängnis riskiert.“
Man kann sich das Drama vorstellen, „das sich angesichts solcher Gesetze täglich abspielt“. Jeder weiß, dass solche Vorschriften stündlich „in allen Milieus missachtet werden.“ Die Gesellschaft ist jedoch „scheinheilig“. Was sich hinter verschlossenen Türen abspielt, wird offiziell nicht registriert oder geahndet. „Die Leitlinie der Autoritäten von Polizei bis Familie heißt: Macht, was ihr wollt, solange niemand davon erfährt.“ Die Gesellschaft „ist zerfressen vom Gift der Heuchelei und von einer institutionalisierten Lüge.“ All dies läuft unter dem Oberbegriff Ehre.
Die Frau ist von diesen rabiaten Gesetzen besonders betroffen, der Mann tut, was er will, die Frau wird von ihm und der gesamten Familie sowie Gesellschaft kontrolliert. Dem Mann erlaubt man, seine sexuellen Freiheiten diskret auszuleben, der Frau nicht. Auf Grund dieser Situation des kollektiven Verbotes ist die marokkanische Gesellschaft „sexbesessen“, auch die Frauen. Hier eine prüde, konservative Gesellschaft, dort Medien mit Dating Portalen, Sex Chats und jeder Menge Pornos, die frei konsumiert werden. Dies führt zu einer regelrechten Persönlichkeitsspaltung in Sachen Sexualität in der Gesellschaft, besonders bei Frauen.
Im November 2014 ergab eine Umfrage, dass 84 % der Bevölkerung gegen sexuelle Freiheit sind, vor allem aber 90% der Frauen; 83 % sind gegen jede Toleranz gegenüber Homosexuellen. Zwar erregt ein Fall wie der der 16 jährigen Amina Filali Aufsehen, die sich 2012 mit Rattengift das Leben nahm. Sie war von einem Freund der Familie vergewaltigt worden. Aber der Mann entging jeder Strafe, weil die Familien eine Heirat mit dem Opfer arrangierten. Art.475 des Strafgesetzbuches besagt nämlich, dass ein Vergewaltiger, der die vergewaltigte Frau heiratet, nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden kann. Doch trotz großen Aufsehens tat sich gesetzmäßig nichts.
Sexuelle Rechte, so Leila Slimani sind Teil der Menschenrechte. „Über den eigenen Körper frei verfügen zu können, seine Sexualität auszuleben ohne Gefahr und Zwang sind Grundbedürfnisse und sollten jedem Menschen garantiert werden.“
Wer also „das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sichert, tritt unmittelbar für die Rechte der Frau ein“ – Marokko tut dies nicht. Der Körper der Frauen unterliegt der sozialen Kontrolle, man respektiert die Frau an sich und ihre Bedürfnisse nicht und lässt ihr nur die Wahl zwischen „Schweigen und Verdammnis“. „Unter einer bleiernen Glocke reproduziert der Mann im Familienkreis das ewig gleiche autoritäre Model“. „Wenn Du mit 16 einen Polizisten anflehen musst, nicht zu verraten, dass Du Händchen gehalten hast und weil Du weißt, dass Deine Familie ebenso brutal reagieren würde wie der Polizeistaat, passt du dich dem verstümmelten Leben unter einer Diktatur an“. Die Frauen haben kaum eine andere Wahl.
Was geht und was nicht geht
Es gibt scheinbar harmlose Vorschriften für Mädchen. Sie dürfen abends allein nicht ausgehen, auch 30jährige nicht. Sie tragen keine Röcke und keine kurzen Hosen. Sie trinken nicht in der Öffentlichkeit, sie tanzen nicht vor oder mit Männern. Ein harmloser Austausch von Zärtlichkeiten ist nicht erlaubt. Ein Kuss kann zur Verhaftung führen. Es gibt kaum Orte, wo Sex zwischen Mann und Frau möglich ist. In den Familien geht es nicht, ein Hotelzimmer zu mieten ist unmöglich, bleiben die Nacht, der Strand, dunkle Ecken, das Auto. Und immer die Gefahr der Entdeckung.
Wenn eine erwachsene, gut verdienende Frau eine Wohnung sucht, um dort allein zu leben, findet sie kaum einen Vermieter. Auch dann nicht, wenn ihre Familie das Alleinleben genehmigt hat. „Die Wohnungseigentümer vermuten, dass sie ein Bordell aufziehen wolle oder gewerbsmäßige Unzucht treibe“. Chor, eine 28 jährige Frau, mußte die schriftliche Erlaubnis ihres Vaters beibringen, obwohl sie doppelt so gut verdiente wie er.
Imam Zamzami, ein aus Tanger stammender Prediger, gab folgende Hinweise, um den sexuellen Notstand zu lindern: „ Die muslimische Frau darf Karotten, Fläschchen oder andere Gegenstände zur Selbstbefriedigung benutzen. Masturbation hilft jungen Männern und Frauen, sich nicht zu versündigen. Wir leben in einer Zeit, in der alles die jungen Leute dazu verleitet, außerehelichen Geschlechtsverkehr zu haben. Masturbation ist daher eine provisorische Lösung, bis sie heiraten. Masturbation verfolgt also auch ein religiöses Ziel“.
Viele der jungen Leute zwischen 15 und 24 Jahren praktizieren aus Angst Sex ohne Penetration. „Das ist immer noch eine Sünde, aber eine weniger schlimme“.
Zärtlichkeit und Vorspiel sind beim Miteinanderschlafen kaum bekannt. Mit dem Mann über die eigenen Wünsche zu sprechen ist so gut wie unmöglich. „Für die Männer ist die Vagina nichts anderes als
der Ort, in den sie hinein masturbieren.“
Das wichtigste Thema der ganzen Debatte über Sexualität ist jedoch die Jungfräulichkeit der Frau. Ein Marokkaner wird selten eine entjungferte Frau heiraten, Obwohl der Koran sich zum Thema Jungfräulichkeit nicht äußert. „Das Jungfernhäutchen ist in gewisser Weise das Allerheiligste des weiblichen Körpers. Man muss es wie eine uneinnehmbare Festung bewahren. Es ist auch der Schatz, nach dem der Wert eines Mädchens bemessen wird. In ärmeren Schichten haben die jungen Frauen nur dieses eine Gut“.
Das Jungfernhäutchen kann und wird medizinisch ständig erneuert. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Ärzte, die dies tun. Dass dies aber selbst bei 5ojährigen Frauen passiert, die noch bei ihren Eltern leben, nie verheiratet waren, aber im reifen Alter noch heiraten wollen, mutet wie reiner Zynismus an.
Um das Hymen beim Austausch von Zärtlichkeiten nicht zu verlieren, nehmen Mädchen Analverkehr in Kauf, der keine Spuren am Körper hinterlässt. Nach dem Familiengesetz muss jede Frau, ehe sie heiratet, ein „Keuschheitszertifikat“ vorlegen.
Hierzulande ist Jungfräulichkeit eine Privatangelegenheit . Nicht so in Marokko. Dort ist sie ein Gegenstand „kollektiver Besorgnis“, der die ständige Überwachung der Frau rechtfertigt. „Der Reinheitskult ist nach Meinung von Frau Slimani deshalb eine Form des Missbrauchs.
Die Frau in der islamischen Gesellschaft ist Mutter, Schwester, Gattin, Tochter, „nur kein Individuum. Sie ist Garant der Familienehre und, schlimmer noch, der nationalen Ehre. ihre Tugendhaftigkeit ist eine öffentliche Angelegenheit“.
Islamische Männer erheben einen totalen „Anspruch auf den Körper einer Frau. Sie beziehen sich dabei auf die Sure 2 Vers 223 des Koran.. Da heißt es: Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu eurem Feld, wie ihr wollt“. Leila Slimani hat sich mit diesem Vers intensiv beschäftigt und fand ein andere Übersetzung: „Statt Acker gebraucht der Exeget die Übersetzung „Quelle des Lebens“- und das ändert den gesamten Sinn.“
Die marokkanische Frau wird in der Schule oder der Familie nicht aufgeklärt. Sie weiß wenig bis nichts über ihren Körper und seine Funktionen. Schwanger darf sie nur werden, wenn sie verheiratet ist. Bringt eine unverheiratete Frau ein uneheliches Kind zur Welt, hat das Kind keinen zivilen Status, wenn der Vater es nicht anerkennt. Was in der Mehrzahl der Fälle nicht vorkommt. Wenn die Frau das Kind standesamtlich anmeldet, muss sie aus einer vorgegebenen Liste einen Namen auswählen, der den Zusatz Abd trägt, womit das Kind ein Leben lang als unehelich gebrandmarkt ist.
Prostitution ist ebenfalls ein Tabuthema. Eine Prostituierte berichtet in Slimanis Buch, dass die Männer sie wie einen Hund behandeln. „Sie wollen es machen wie in den Pornofilmen. Erst wenn man ihnen sagt, sie seien wie Tiere, sind sie zufrieden“. Doch viel schockierender ist der soziale Aspekt dieser Betätigung. Tatsache ist, „dass Tausende Familien davon leben. Tausende von Prostituierten sind die Ernährer ihrer Familien. Gleichzeitig betrachtet man sie als Parias. Sie werden verstoßen und verhöhnt.“
An Sex, obwohl er verboten ist, verdienen viele Menschen. „Die Polizei profitiert davon, die Wachmänner, die Zuhälter, alle. Von Prostituierten, Liebespaaren, Ehebrechern wird Schutzgeld erpresst“. Mustapha, ein von Slimani interviewter Polizist, sagt dazu: „In diesem Land gibt es keinen Platz für Gefühle. Das Einzige, was zählt, ist Geld. Wenn man Geld hat, ist man frei. Die Gesetze gelten erst mal für die Armen“.
„Wer Geld und Verbindungen hat, braucht praktisch nichts zu befürchten. Die sexuelle Moderne ist für die große Masse der Stadtbevölkerung damit unerreichbar. Das wiederum gibt dem religiösen Fundalismus Zulauf.“
Wie absurd das Thema Sexualität ist, zeigt folgendes Zitat der Autorin:
„Die Leute in Mexiko haben Angst vor Schönheit und Zärtlichkeit. Wir sehen den ganzen Tag lang Videos über den Islamischen Staat, Morde live, aber wir ertragen es nicht, einen Kuss im Fernsehen anzuschauen“-
Konkrete Bekenntnisse
Nour, eine Dreißigjährige, die Frau Slimani 2014 kennen lernte, ist unverheiratet und lebt noch bei ihren Eltern. Sie nennt ihre Eltern
entspannt, sagt aber deutlich, dass sie das Thema Sexualität mit ihnen nie angesprochen habe. Aber „für meine Mutter werde ich am Tag meiner Hochzeit Jungfrau sein“. Als sie fünf Jahre alt war, hat ein Cousin sie unsittlich berührt, nicht etwa vergewaltigt. Danach hält sie sich von allem fern. Heiraten will sie nicht. Sie ekelt sich, wenn sie mit jemandem zusammen ist. „Irgendwann hatte ich es satt. Ich bereite dem Kerl Vergnügen, aber um mich ging es überhaupt nicht.“
Die Autorin trifft Maha Sand 2015. Diese erzählt, dass sie in Paris 2012 die sog. Vagina Monologe von Eve Eisler besucht hat. Sie will sie für Marokko adaptieren und lädt dazu Frauen ein, um zu erfahren, wie sie ihre Vagina beschreiben. Die These war, dass man frei über Sexualität und den eigenen Körper reden lernen müsse. Eine der Schauspielerinnen sagt in dem Stück: „Meine Vagina nehme ich überall mit hin. In mein Schlafzimmer, auf den Markt, in die Moschee. Ich drücke meine Beine zusammen, damit niemand sie sehen kann. Niemand darf sagen, dass sie da zwischen meinen Beinen ist. Ich muss sie verschließen und darf sie erst am Tag meiner Hochzeit öffnen.“ Einen solchen Monolog vorzutragen, war nicht nur Provokation, sondern öffentliche Unzucht.
Mouna ist lesbisch. Von ihren Eltern, progressiven Linken, war sie frei erzogen worden. Allerdings wussten die Eltern nichts davon, dass sie Lesbe war. Als sie 30 Jahre alt war, gestand sie es ihrer Mutter, die ihr seit Jahren zusetzte, dass sie heiraten solle. Die entsetzte Mutter hielt sie für krank und behindert und meinte, ein Arzt müsse ihre Krankheit heilen können. Eine ihrer lesbischen Freundinnen wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Mouna lebt nach wie vor bei den Eltern, was für sie unangenehm, aber sicher ist. Sie gesteht: „Viele Lesben und Schwule heiraten am Ende doch, um das Gesicht zu wahren. Ich verurteile
sie nicht“.
Leila Slimani schreibt am Ende ihres Buches:“ Viele der Frauen, die ich getroffen habe, kümmern sich nicht um Normen… und darum, was die Leute sagen. Diese Frauen sind, so hoffe ich, die Zukunft meines Landes. Sie warten nicht darauf, dass man ihnen Räum gibt, ihr Leben zu leben. Sie holen sich, was es zu holen gibt, sie stellen ihren Freiheitsdurst unter Beweis, auch wenn sie einen hohen Preis dafür zahlen müssen“.
Ingeborg Flagge
Vortrag 2019