Ulm gibt sich mit dem Ruhm, den höchsten Kirchturm der Welt zu haben, nicht zufrieden. Es ist eine der wenigen deutschen Städte, die die städtebaulichen Sünden der 5oiger Jahre offensiv angegangen ist und ihre Mitte mit hervorragender moderner Architektur noch attraktiver gemacht hat. Ein Rundgang durch die Stadt beweist es.
Als vorläufig letzter kompromisslos zeitgenössischer Bau im Zentrum der Stadt entstand Anfang 2o13 die neue Synagoge. Der strenge Quader der Kölner Architektin Susanne Gross gibt sich eindrucksvoll geschlossen, nur an einer Stelle durchbricht ein Ornament, durch das Tageslicht ins Innere fällt, die fast abweisende Fassade. Die Synagoge ist Heimat einer neuen jüdischen Gemeinde, die fast wieder die Stärke der 3oiger Jahre erreicht.
Seit das weiße Stadthaus von Richard Meier 1998 fertig gestellt wurde, scheinen Mut und Aufgeschlossenheit für moderne Architektur in Ulm viele Anhänger gewonnen zu haben. Anders ist die Fülle an herausragenden Bauten, die vor allem im Jahre 2007 fertig wurden, nicht zu erklären. Alte Architektur findet immer den direkten emotionalen Weg ins Herz des Betrachters. Der Tourismus lebt von derartigen schnellen Eroberungen. Moderne Architektur dagegen braucht für das Verständnis oder gar die Zuwendung den vorurteilsfreien Blick, der Mühe macht und eine längere Zeit der Gewöhnung mit sich bringt. Vermutlich war das Stadthaus von Richard Meier ein guter Lehrer. Volkes Stimme lehnte das Projekt zunächst heftig ab, fürchtete man doch, es könne das Münster verdecken, Erst als der weisse, elegant gerundete Bau fertig war, erkannte man, daß er als eine Art Brennglas konzipiert war, das dem Münster keine Konkurrenz machte, sondern es vielmehr immer neu und anders inszeniert.
Dem Stadthaus folgte dann die eigentliche Leistung der Stadt, der Rückbau des „Peitschenhiebs im Gewebe der Stadt“, wie der Architekturkritiker Gottfried Knapp 1996 die verheerende Verkehrsschneise der Neuen Straße nannte, die Ulm in zwei Teile zerschnitt. Hier das Viertel entlang der Donau, dort das Münsterviertel, wie zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen konnten. Die vierspurige Schnellstrasse war im Wiederaufbau nach dem Kriege Ulms Idee einer autogerechten Stadt gewesen.
Die Beseitigung dieser Sünde ist ein städtebaulicher Kraftakt, auf den Ulm stolz sein kann. Nicht viele andere deutsche Städte hatten dazu den Mut und eine entsprechende Vision. Der Stadtumbau und die Verengung der Neuen Strasse auf je eine Spur in jeder Richtung gab Ulm Stadtraum zurück, der frühere Wunden geheilt hat.
Die Qualität des neu gewonnenen Areals und seine Bebauung durch das „Haus der Sinne“, das Gebäude der Sparkasse und die Sammlung Weishaupt sind städtebaulich und architektonisch klug und beispielhaft. Was die Neudefinition städtebaulicher Bezüge angeht, leisten diese drei Bauten Erstaunliches Sie bilden die Kanten neuer Straßen und kleiner Plätze, wo bis zum Umbau ein Niemandsland aus Park- und Restflächen das Wort vom öffentlichen Raum höhnisch klingen ließ. Sie nehmen alte Fluchtlinien auf, setzen sie fort und weben die Stadt an einem Punkt wieder zusammen, wo sie Jahrzehnte nur eine „Spukgeschichte aus den Pubertätsjahren des modernen Städtebaus“ war - so Gottfried Knapp.
Kritiker beschrieben 2007 die drei Bauten, die hintereinander, aber versetzt in diesem neuen Teil der Stadt liegen, als Schiffe, die im „gebändigten Verkehrsstrom lässig vertäut“ seien. Dergleichen Beschreibung war nur für jemanden möglich, der die riesige Verkehrsfläche noch im Kopf hatte, die es hier früher gab. Heute wirkt die bebaute Fläche so, als sei sie schon immer so gewesen. Und Besucher heute müssen sich anstrengen, die alten Sünden überhaupt zu verstehen.
Der messerscharfe Bug des „Hauses der Sinne“legt die Assoziation eines Schiffes immer noch nahe. Das Gebäude ist im Wechsel aus Transparenz und Geschlossenheit, aus hellem Beton und grossen verglasten Flächen von allen Neubauten das eindrucksvollste. Dennoch bleibt die Einführung der scharfkantigen Spitze ein gestalterisches Motiv, das in diesem Ensemble eher modisch wirkt.
Das „Haus der Sinne“ bildet zum Münsterplatz hin eine neue Raumkante, indem es die Bebauungslinie des dahinter liegenden Geschäftshauses der Deutschen Bank aufnimmt und so mit eleganter Geste den Blick auf das hoch aufragende Münster lenkt. Das Haus der Sinne ist ein Fest aus glattem, exquisit gearbeitetem Beton, ein öffentliches Haus, das viele Menschen anzieht. Im Erdgeschoß funktioniert es als gedeckte Passage und auf dem Dachgarten als Altan mit großen Rundblick über die Stadt.
Im Vergleich zum „Haus der Sinne“ spricht der Sparkassenbau eine andere, aber ebenfalls alltagstaugliche Sprache. Dennoch fragt man sich, ob der höhere Gebäudeteil, der schräg in den anderen hinein gesteckt ist, aus Proportionsgründen nicht weniger stark hätte in den öffentlichen Raum hinein ragen sollen. Eine optische Ungleichgewichtigkeit ist nicht zu leugnen. Und ähnlich wie bei den Kölner Kranhäusern ist die erste Reaktion von Besuchern immer ein unangenehmes Gefühl, als wollte ihnen das herauskragende Gebäudeteil im nächsten Moment auf den Kopf fallen.
Identisch in Höhe und Gestaltung mit der Sparkasse ist übrigens der gläserne Pavillon, durch den die unterirdischen Parker aus der Tiefgarage ans Licht finden. Dies ist jedoch Zufall: das „Haus der Sinne“ und der Sparkassenbau sind von dem Münchner Stephan Braunfels, der Pavillon ist es nicht. Unangenehm im Jahre 2oo7 erschien damals schon der Entlüftungsbau der Tiefgarage, der als technisches Bauwerk ein wenig an das Centre Pompidou in Paris erinnert. Unangenehm ist er bis heute, zu technoid, die Kunsthalle Weishaupt fast völlig verbergend.
Diese Kunsthalle, für die sich Ulm wegen ihrer Schätze bei der Firma Weishaupt bedanken kann, ist zwar klar konturiert, aber eindeutig zu hoch und ungegliedert. Wolfram Wöhrs Kunstbau wirkt zu schwer und monumental. Seine Seitenwand entlang der zweispurigen Fahrbahn der Neuen Straße ist durch schmale, dichte Lisenen strukturiert, aber im Vergleich zu den sieben gegenüber liegenden Einzelbauten eindeutig zu einheitlich. Für den Autofahrer, der dort vorbei fährt, zieht sich die Fassade zu einer glatten, uniform wirkenden Fläche zusammen.
Was die Brücke über die Strasse bedeutet, versteht nur, wer sich in Ulm auskennt. Sie verbindet die Weishaupt Kunsthalle mit dem Ulmer Museum, wo die 35.ooo Jahre alte eindrucksvolle Skulptur des Löwenmannes auf Besucher wartet. Diese Brücke dockt an das Museum jedoch auf der Höhe von dessen oberstem Geschoß an, keine wirklich überzeugende Willkommensgeste. Sie wirkt „ wie ein Querbalken im Stadtbild“ und zerschneidet interessante Perspektiven. Ob der dank dieser Brücke erhoffte Besucheraustausch zwischen den beiden Institutionen in den sieben Jahren seit seiner Fertigstellung gelungen ist, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Das „Haus der Sinne“ und der Sparkassenbau bestechen durch ihre Architekturqualität und die reizvollen Blickfänge, die sie von weitem bieten. Zweifelhaft dagegen der Durchblick auf die nördliche Längsseite der Kunstsammlung, die die Kramgasse wie eine hohe Grenzmauer blockiert. Der Haupteingang des Weishauptbaus dagegen ist einladend transparent und bildet zu dem Sparkassenbau ein attraktives Gegenstück.
Wer auf dem neu entstandenen Hans-und-Sophie-Scholl Platz steht, steht in der Mitte des neuen Quartiers, wo sich die Verkehrsströme aus allen vier Himmelsrichtungen treffen. Unmittelbar an diesem Platz liegt ein weiterer Neubau, der -von zwei steilen Giebeln gekrönt - eine teils von transparenten, teils von Fassadenelementen halb geschlossene reizvolle Fassade zeigt, ein zeitgenössischer Bau, aber in Anlegung an vorhandene Fachwerkbauten überzeugend gestaltet.
„Mit Geld hat Kultur zunächst nichts zu tun. Kultur ist vor allem eine Frage der Persönlichkeit, eine Frage von Ideen, Mut, Risikobereitschaft, eine Frage der Aufgeschlossenheit und der Neugierde. Kultur braucht Reibung und Auseinandersetzung.“ Als ich dies in einem Buch über Ulms Kulturbauten vor Jahren schrieb, was das Stadthaus gerade fertig und für viele gewöhnungsbedürftig. Von der Neuen Mitte oder der Bibliothek Gottfried Böhms war noch nicht die Rede. Dabei ist diese Bibliothek schon 2004 fertig geworden und hätte einen Sturm des Protestes verdient. In ihrer gläsernen Plastizität ist sie ein gewagterer Eingriff in das Gewebe der alten Stadt, als es der Bau des Stadthauses je war.
Das weisse Stadthaus ist vergleichsweise niedrig und schmiegt sich bewegt an den Rand des Münsterplatzes. Es gibt dem Platz Halt und den hier eimündenden Strassen einen Abschluss. Die Bibliothek dagegen besetzt mittig einen grossen Platz hinter dem Rathaus und übersteigt die alte Umgebung erheblich. Doch die Form der gläsernen Pyramide bleibt ein Fremdkörper in der Ulmer Altstadt, der sich trotz einer räumlichen Qualität des Baus und der streifigen Bearbeitung nicht integriert. Die Bibliothek hat ihre zauberischen Momente, wenn sie in der Verlängerung der Dresdner Bank in der Vestgasse wie aus Eis geschnitten erscheint und scheinbar über dem Boden schwebt. Aber andere Durchblicke auf die die Altstadt überragende Pyramidenspitze erwecken den Eindruck eines fremden, exotischen Einsprengsels, das hier nicht hin gehört und an das man sich nicht gewöhnt.
Ulms gute Architektur ist überall in der Stadt zu finden. In der Neuen Mitte liegt sie klar vor aller Augen. Es ist eine Architektur, die eher gelassen und selbstverständlich daherkommt als aufreizend oder sensationell. Aber durch immer schäbiger werdende Bauten der 5oiger Jahre in der Reststadt und vor allem durch die Billiggebäude der Bahnhof- und Hirschstrasse droht die Wirkung guter Häuser zuschanden zu gehen. Die Achse vom Bahnhof zum Münster ist eine so peinliche Kommerzmeile mit solcher Anhäufung trivialster Fassaden, daß man getrost von einem gestalterischen Ausverkauf der urbanen und ästhetischen Werte Ulms sprechen kann. Wenn die Aufwertung der Innenstadt weiter Zukunftsprogramm ist, dann liegen hier die nächsten Aufgaben.