Architekturkritik

Was sie ist, kann und soll

Architekturkritk ist der Versuch, mit Worten – selten in Bildern – zu erklären, warum ein Bau gut oder weniger gelungen ist oder warum er richtig oder falsch ist. Architekturkritik will Verständnis wecken für die gemeinsame Leistung eines Bauherrn und seines Architekten. Zielgruppe der Architekturkritik ist eher der Laie, gebildet oder nicht, dem die Augen für eine schwieriges Metier geöffnet werden sollen, das in der Öffentlichkeit nicht selten unfreundlich kommentiert wird.

Für den Schreiber ist Architekturkritik vor allem harte Arbeit. Denn sie erfordert gründliche Recherche zu dem zu besprechenden Bau,  das Wissen um die Kenntnis notwendiger Vergleiche und eine differenzierte Einordnung in das allgemeine Architekturgeschehen. Das bedeutet Überblick und Ausblick und kein aus dem Ärmel geschütteltes Geschmacksurteil. Vor allem aber heißt es, daß man das Objekt der Betrachtung aus eigener Anschauung gesehen hat und nicht über etwas schreibt, das man nur von Fotografien kennt.

Architekturkritik findet man in zahlreichen Medien, aber einige sind dafür geeignet, andere nicht. So ist z.B. „Der Spiegel“ eines der ungeeignetsten Magazine für jede Form der Architekturkritik; seine typische Schwarz-Weiß Sicht der Dinge, sein oft in Häme getauchter Blick auf die Welt, läßt kaum die differenzierte Betrachtung eines Baus zu. So hieß es kürzlich in einem Artikel über „Bauen in Berlin“: „Hier ist alles entweder zu groß oder zu flach. Hier steht alles entweder zu weit auseinander oder zu nahe beieinander. Hier ist alles irgendwie falsch“. Auf derart banale Feststellungen ohne jede fachliche Grundlage kann man gut und gern verzichten, ob als Leser oder betroffener Architekt und Stadtplaner.

Architekturkritik verlangt eine komplexe Sichtweise. Wer über Architektur schreibt, muß Tatbestände, Umstände und Zustände deutlich machen, bevor er analysiert, beurteilt und zensiert. Er muß die politische und wirtschaftliche Vorgeschichte eines Baus verdeutlichen und nicht nur das optisch-ästhetische Endergebnis darstellen; er muß den Prozeß der Realisierung erklären und Argumente dafür finden, warum die Fertigstellung eines Hauses so lange dauert. Das ist bei heute immer kürzeren Artikeln nicht selten auch ein Darstellungsproblem.

Wie aber soll eine Architekturkritik ihre Leser herausfordern, überzeugen und zum Denken anregen, wenn der Prozess der Aufklärung über Hintergründe der Entstehung eines Baus, über Macher und Nutzer und das Umfeld wegen Platzmangels nicht stattfindet.

Architektur und die Kultur ihrer Entstehung ist nach wie vor Ausdruck eines Wertesystems. Auch im 21.Jahrhundert ist Architektur „Spielraum für Leben“ (Ulrich Conrads), eine gesellschaftliche Kraft, die Gefühlen, Stimmungen und Befindlichkeiten des Menschen Raum gibt, die aber auch nach Idealen und Maßstäben einer Gesellschaft befragt werden kann.

Insofern ist Architekturkritik auch mehr als nur die Besprechung eines Baus. Sie ist kulturelle Auseinandersetzung, technische, konstruktive, materielle, ökonomische Analyse, psychologische Forschung, politischer Diskurs und Gesellschaftskritik. Architekturkritik ist nachträgliche Bewusstseinsbildung und verlangt ihren Schreibern Begeisterung, akribische Recherche und einen lesbaren Stil ab. Niemand muß als Kritiker heute noch ein Missionar sein, wie das in den 1960er und 1970er Jahren häufig der Fall war, aber zahnlose Kritik oder platte Lobhudelei sind denn auch zu wenig. Heruntermache und Polemik lesen sich zwar manchmal durchaus amüsant, jedenfalls interessanter als seichte Betrachtungen. Aber sie sind häufig nichts anderes als die eitle Selbstbespiegelung eines arroganten, aber wortgewandten Schreibers.

Wer schreibt?

Architekturkritiker in Deutschland und in deutschsprachigen Ländern sind nicht mehr als höchstens zwei Dutzend Schreiber. Diese sind meistens männlich;  im Vergleich zu den häufigeren Schreiberinnen der 1970er und 1980er Jahre sind die weiblichen Talente heute in der Minderheit.

Unter wirklichen Architekturkritikern verstehe ich nicht die Redakteure von Architektur- und Baufachzeitschriften; sie sind nicht selten selbst Architekten, und ihre Zeitschriften werden nur von Fachleuten gelesen. Vielmehr verstehe ich unter Architekturkritikern Journalisten, die sich bei Tageszeitungen auf das Thema Architekturkritik spezialisiert haben.
Es ist ein kleines Häufchen belesener und gebildeter Menschen, die davon überzeugt sind, daß ihre Kritiken notwendig sind, daß man sie gern liest, ja lesen muß und daß ihre Leser aus dem Geschriebenen Anregungen beziehen. Man könnte diese Menschen im besten Sinne Überzeugungstäter nennen.

Aber natürlich wissen auch die Architekturkritiker, daß jede noch so gut geschriebene Kritik zu spät kommt. Ein Artikel kann die Qualität eines Baus nur noch beschreiben, nicht aber ändern. Architekturkritik ist Vollzugsmeldung und Nachruf, kann aber schlechte Gebäude nicht verhindern. Deswegen brauchen ihre Schreiber auch einen gehörigen Schuß Idealismus und die Geduld, ihre Leser mit jedem neuen Artikel immer wieder an das Thema der Baukunst heran zu führen. Sie müssen daran glauben, daß ihr Schreiben die Welt wenn schon nicht verändert, so doch bewegt.

Ab und an verlassen Architekturkritiker, die jahrzehntelang mutige Artikel gegen schlechte Bauten geschrieben haben, ihre Gewohnheit.  Ich erinnere mich noch gut, wie irritiert ich war, als Manfred Sack, der langjährige Architekturkritiker von „die Zeit“ , für sich entschied, Architekten und die Zustände in der Architektur  nicht mehr zu zerreissen. Er fand, daß negative Artikel keine Wirkung hätten. Nun war er nie jemand, der Vergnügen am Auseinandernehmen eines Architekten oder seiner Häuser hatte. Aber es hat mich dennoch einige Zeit gekostet zu verstehen, warum Manfred Sack nicht mehr in den Jammertälern des Bauens unterwegs war, sondern lieber über kleine, feine Einfälle am Rande der Architektur schrieb. Der Architekturkritiker war zum Pädagogen mutiert; es war ihm wichtiger, seine Leser sehen zu lehren und nicht zum zigsten Male die Abgründe von Planungen zu erklären oder eine modisch- oberflächliche Gestaltung anzuprangern.

Architekturkritiker schreiben in ähnlicher Weise, wie dies ihre Kollegen aus den Sparten Literatur, Musik und Design tun. Ihr Angang an einen neuen Bau ist meist gut strukturiert, ihre Sprache klar und nüchtern. Aber ihre Artikel ähneln sich und lassen sich wie viele moderne Bauten kaum voneinander unterscheiden, jedenfalls selten einem Namen zuordnen. Manfred Sack war da eine Ausnahme. Man erkannte ihn sofort an seiner ausdrucksstarken Sprache. Er liebte schlingenreiche Sätze, blumige Formulierungen, bildliche Vergleiche. Seine Worte waren „anmutig, entzückend, wohlgestalt, gescheit, hinreissend, schalkhaft, dürftig, bärbeißig oder sonderbar“. Seine sprachverschwenderische und wortschöpferische Formulierungskunst ließ ihn von "faustdick aufgetragener Populärarchitektur“ schreiben, von „formlüsternen Baumeistern", von „Stilblütenzüchtern und Provinzpopeln“. Dergleichen starke, anschauliche Sprache gibt es heute leider nicht mehr. Vielleicht würde sonst die Architekturkritik stärker gelesen.

Jemand, der ganz anders, aber auch ganz eigen war, war Anfang der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung der Ostberliner Wolfgang Kil.
Die DDR hatte ihn und seine Sicht auf Architektur geprägt, was ihn grundsätzlich von seinen westlichen Kollegen unterschied. In ungemein gescheiten Artikeln schrieb er nun über westliches  Bauen und Bauten im Kapitalismus. Seine Aufsätze waren Einladungen, Architektur aus einer politisch anderen Perspektive zu betrachten. Nicht der Schreibstil war wie bei Manfred Sack sein Erkennungsmerkmal, sondern eine
Sichtweise, die einem anderen sozialen und politischen Hintergrund geschuldet war.

Was wird kritisiert?

Viele Architekturkritiker haben Vorlieben für bestimmte Themen. So schreibt Dieter Bartetzko, einer der besten Architekturkritiker Deutschlands, in der FAZ fast nur über den Abriß und die Verschandelung alter Bausubstanz; nicht weil er kein Interesse an anderen Themen hätte, sondern weil in Frankfurt mit historischen Reminiszensen wirklich schändlich umgegangen wird.

Aber im Interesse einer aktuellen Architekturkritik muß sich jeder Kritiker immer wieder neu der gesamten Bandbreite des Themas Architektur stellen. Und es geht bei diesem Schreiben nicht darum, mit seinem Urteil Recht zu behalten und das letzte Wort zu haben; jeder Kritiker muß ständig die Bereitschaft zur Korrektur mitbringen. Denn Architekturkritik ist „Wahrnehmen: es ist mehr, aber auch nicht weniger als die Beobachtung und die nach Kräften subjektive Meinung eines Einzelnen Der will gelesen, gehört, verstanden, bedacht, möglichst ernst genommen werden, aber nicht unbedingt recht behalten. Kein wahrhaftiger Kritiker, der sich das anmaßte – oder dem solche Anmaßung irgend etwas nützte. Und kein wahrhaftiger der sein Geschäft ohne Skrupel betriebe…“ (Manfred Sack)

Es gibt seit Jahrzehnten eine Konkurrenz zwischen Zeitungen, wenn es um die Besprechung eines neuen herausragenden Baus geht. Einige Journalisten schreiben schon Wochen vor der Fertigstellung darüber, nur um die Ersten auf dem Markte zu sein. Das gilt zwar als anrüchig und unfair, aber das stört nur noch wenige. Auch daß ein endgültiges Urteil erst dann wirklich möglich ist, wenn ein Gebäude fertig ist, scheint inzwischen überholt.

Die meisten Redaktionen stehen unter grossem wirtschaftlichen Druck und setzen auf Neuheiten. Das führt dazu, daß fast sämtliche Zeitungen einen wichtigen Neubau mehr oder minder zum gleichen Zeitpunkt besprechen, was entschieden langweilig ist. Architektur ist schließlich keine Eintagsfliege, die morgen uninteressant ist. Sie ist auch keine heisse Suppe, die schnell kalt wird. Dennoch gerät das Feiern eines neuen Hauses immer mehr in die Nähe einer grandiosen Opernpremiere, die nach drei Monaten vom Programm genommen wird, oder hat Ähnlichkeit mit einem einmaligen Popkonzert,  auf das die Fans seit Monaten warten.

Es ist auch durchaus keine Seltenheit mehr, daß z.B. zur Eröffnung eines neuen Museums ein Buch des leeren Hauses mit leeren Wänden publiziert wird, so als würde die Nutzung des Baus durch Gemälde und Plastiken beeinträchtigt und die Qualität schmälern.

Dabei sind sich die meisten Architekturkritiker darüber einig, daß es das Beste sei, einen Bau bei seiner Fertigstellung und dann noch einmal nach fünf oder zehn Jahren des Gebrauches zu analysieren und zu beurteilen. Denn erst im Gebrauch beweist sich wirklich seine funktionale Qualität, die gewählte Gestaltung und die Güte der Ausführung. Aber derartige Artikel haben Seltenheitswert; in unserer schnelllebigen Zeit will sich kein Chefredakteur auf den „zweiten Blick“ einlassen.

Unsere sensationslüsterne und auf Novitäten versessene Zeit hat zu einer weiteren Unsitte in der Architekturkritik geführt. Kritiker schreiben zunehmend lieber über die exzentrischen Bauten sog.Stararchitekten als über kleine, aber überzeugende Häuser, hinter denen kein berühmter Name steht. Auch die Leser lassen sich lieber durch einen gut lesbaren Artikel über aussergewöhnliche Architektur verführen, als zu versuchen,  die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Qualität eines guten, aber  normalen Baus nachzuvollziehen.

In Zeiten oberflächlicher Reizüberflutung verkauft sich markante Originalität besser als gute Alltagsarchitektur. Diese könnte eine großes Thema für die Architekturkritik sein, aber das Aussergewöhnliche fasziniert entschieden mehr. Dabei wissen die meisten Kritiker, daß sich die Hektik der extravaganten Form und der gebauten Sensation schnell erschöpft. Im Vergleich dazu ist alltägliche Baukunst eher zurückhaltend, eher leise als schrill, sie ist nicht kurzfristiges Feuerwerk. Gute Alltagsarchitektur provoziert nicht, sie überzeugt und ist meist von umspektakulärer Gelassenheit, was aber erstens schwierig zu entdecken und zweitens noch schwieriger an die Leser zu „verkaufen“ ist. Gute Alltagsarchitektur in der Architekturkritik zu beschreiben macht sehr viel mehr Arbeit als die Hymne auf ein exzentrisches Hochhaus.

Wirtschaftliche Umstände

Die Architekturkritik ist eine ehrenwerte Sparte, aber sie ist durch die wirtschaftliche Situation der meisten Zeitungen in Gefahr. Die Artikel  über Architektur werden immer weniger, das Feuilleton immer dünner. Auf den lokalen Seiten oder im Wirtschaftsteil, wo Bauen eigentlich hingehört, hat sich die Architekturkritik nie etablieren können. Auch online oder im Fernsehen hat sie sich nicht durchgesetzt.
Bisher waren bekannte Architekten dennoch an Artikeln in den renommierten Tageszeitungen interessiert. Auch das scheint vorbei, seit anlässlich der Eröffnung der Ausstellung über Herzog & de Meuron im Architekturmuseum München das einzige Interview nicht etwa einem bekannten Kritiker, sondern direkt der „Bild“-Zeitung gab. Für die größtmögliche Verbreitung der eigenen Gedanken nahm Herzog auch  eine oberflächliche Kommentierung der eigenen Bauten in Kauf.

Architektur prägt unsere Umwelt und den Menschen wie kaum etwas anderes. Solange dies der Fall ist, wird es vermutlich auch Architekturkritik geben, wenn auch vielleicht eine andere, als wir sie heute kennen und schätzen.