Neues Denken – neue Welt – neue Architektur

Über die Bauten von Richard Neutra

Der Kölner Architekt Erich Schneider-Wessling, ein Anhänger Richard Neutras und stark von ihm geprägt, meint gleichwohl skeptisch über ihn: „ Das Einfamilienhaus ist keine Antwort. Es gehört der Vergangenheit an. Es war aber auch nicht Neutras Konzept. Neutra hat das Einfamilienhaus nur als Experimentierfeld für die biologischen Bedürfnisse betrachtet.“

Die deterministische Sprache der 6oiger Jahre ist hier ziemlich unverständlich, aber wenn mit diesen Worten gemeint ist, dass es Richard Neutras Anliegen war, mit seinen Einfamilienhäusern immer wieder das zu bauen, was er selbst „Ankerplätze der Seele“ nannte, dann fragt man sich, was daran schlecht sein soll. Wenn ein Architekt versucht, seinen Bauherren eine lebenswerte und auf sie zugeschnittene Lebenswelt zu realisiseren, so ist diese pragmatische Tat als höchste Baukunst anzusehen.
Schneider Wessling, dessen Einfamilienhäuser bei allen Unterschieden durchaus  Ähnlichkeit in der Gestaltung und Qualität der Häuser Neutras zeigen, dachte allerdings städtischer und stadtbezogener als Neutra und definierte optimales urbanes Wohnen für die 6oiger Jahre nicht als Wohnen im freistehenden Einfamilienhaus, sondern in der gestapelten Wohnung mit herausragendem Grundriß und grossen Loggien und Balkonen.

Richard Neutra wie Erich Schneider Wessling gehören zu denjenigen Architekten der 6oiger Jahre, für die, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen, „das Menschliche entscheidet.“ Oder, um Gerd Bucerius zu zitieren, für den Neutra eines seiner Häuser dieser Zeit in der Schweiz baute: „ Es geht um den Menschen. Für Richard Neutra war Architektur eine soziale Kunst, war Medizin. Nichts zum Bewundern, sondern zum Wohlfühlen, eine „immer neue Seelenerfrischung“ solle eine gutes Haus bieten“. Das lässt sich nicht für viele Architekten dieser Zeit sagen.

Neutras zwischen 196o und 197o in Europa realisierten Einfamilienhäuser, die in der Ausstellung behandelt werden, sind Teil einer Rückkehr der Moderne nach Deutschland, die das 3.Reich bekanntlich geächtet hatte. Die Kanonisierung dieser von Blut und Boden unbelasteten Moderne hatte unmittelbar nach 1945 eingesetzt, aber die 5oiger Jahre der BRD mit ihren oft filigranen und geschwungenen Bauten folgten anderen gestalterischen Prämissen als denen Neutras. Die „Hinweise aus Kalifornien“ , wie ein Kritiker  Neutras Bauten nannte, meint zu ihm:“Seine Spielart der Moderne lebt vom  Verschwinden der Grenzen zwischen drinnen und draussen, Fenster sind keine Löcher in der Wand, eher selber durchsichtige Wände, die vom Boden bis zur Decke reichen und sich zur Seite schieben lassen“. Diese Bauten fanden zwar grossen Zuspruch und Beifall, blieben aber auf wenige Beispiele beschränkt. Erstens ließ sich die „in Kalifornien sonnengereifte Gestaltung“ nicht ohne weiteres in unsere Breitengerade übertragen und zweitens reagierten die meisten Menschen  auf Neutras moderne Häuser so, wie sie es auf moderne Architektur seit den 2oiger Jahren tun, nämlich mit der Ablehnung, solche Häuser seien zu transparent, zu neutral und zu kühl. Die Kritikerin Laura Weissmüller meint, dass die Bevölkerung damals nicht bereit war, sich vom „Muff der BRD“ zu befreien. Das ist sie übrigens bis heute nicht.

Aber eben diese Bevölkerung ließ sich in grosser Zahl, allerdings mit gewaltiger Propaganda von Bauherrenseite aus den heruntergekommenen Altbauquartieren der Städte, die als menschenunwürdig dargestellt wurden, in die neuen Trabantensiedlungen wie München-Perlach, Berlin Märkisches Viertel oder Köln Chorweiler umsiedeln, wo sie zu 3o bis 4o Tausenden in getypte standardisierte Wohnungen verbannt wurden, deren unendliche Gleichförmigkeit der Fassaden selbst die Schwalben bei der Suche nach ihren Nestern verzweifeln liessen. Der Protest der Bewohner gegen diese Form der Kasernierung fand erst Jahre nach ihrem Einzug statt.

Diese Art der Architektur, wenn man das damalige Bauen in neutralen Serien überhaupt so nennen kann, war im Gegensatz zu Neutras individuellen Häusern  die vorherrschende Gestaltung der 6oiger Jahre, auch wenn viele der Großbauten auf Grund der langen Planungs- und Realisiserungszeit erst Anfang und Mitte der 7oiger Jahre fertig gestellt wurden. Je länger die Realisierung dieser Großbauten dauerte, umso mehr und stärker wurde diese Architektur zum Zerrbild ihrer selbst und von der Kritik zerrissen. Heute hat sich diese Kritik in pauschale Ablehnung verwandelt, obwohl der Denkmalschutz bemüht ist, die Hinterlassenschaften dieser Zeit – meist anonyme, uniforme, massig-monumentale Bauten – als Fertigteilästhetik zu definieren und in ihren besten Bespielen zu erhalten. Fairerweise muß man zugeben, dass vieles in den Großsiedlungen an Korrekturen und Umbauten passiert ist und sie eindeutig qualitativ verbessert wurden.

Architektur spiegelt immer die Entwicklung einer Gesellschaft. So auch das Bauen der 6oiger Jahre. Politischer als damals war die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt und nie gegensätzlicher und widersprüchlicher.

1957 geht die eigentliche Phase des Wiederaufbaus nach dem 2.Weltkrieg zu Ende. Die CDU unter Adenauer erringt die absolute Mehrheit. „Wir sind wieder wer“, beleuchtet als Ausspruch das neue deutsche Selbstbewusstsein. Trotzdem ist die Zeit von unterschwelligen Spannungen gekennzeichnet. Einerseits ist noch der Geist der unmittelbaren Nachkriegszeit lebendig, Fleiß und Sparsamkeit sind nach wie vor noch anerkannte Werte. Andererseits beschert das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder der Bevölkerung wachsenden Wohlstand. 1963 geht die Ära Adenauer, die mit dem Motto „keine Experimente“ angetreten war, zu Ende. Ludwig Erhard, der Vater des deutschen Wirtschaftswunders ,wird Kanzler. 1966 vereinbaren die Parteien CDU-CSU und SPD eine grosse Koalition, deren Wiederauflage vor ca. fünf Jahren immerhin über vierzig Jahre gedauert hat.

Die Spannungen zwischen West und Ost nehmen zu, 1961 schottet sich die DDR durch den Bau der Mauer gegen die Bundesrepublik ab. Willy Brandt fordert zwar, mehr „Demokratie zu wagen“, er kreiert eine neue Ostpolitik, aber die Annäherung zwischen West und Ost lässt auf sich warten. Eine Periode starken Wachstums mit Vollbeschäftigung folgt 1966-67 die erste Rezession der Nachkriegszeit.. Dennoch prägen Wachstumsoptimismus und der uneingeschränkte Glaube an das technisch Machbare die Zeit. 1961 findet der erste bemannte Raumflug des Russen Gagarin statt. Im selben Jahr, in dem der Mensch das All erobert, gelingt auf der Erde die Geburtenkontrolle, und die Antibaypille kommt in den Handel.

Wachstumsbedingte Unterschiede haben eine Intensivierung der Diskussion politischer und sozialer Fragen zur Folge. Eine zunehmende Radikalisierung des politischen Lebens findet statt. Einer der Hauptauslöser ist der Eintritt 1965 der USA in den Vietnamkireg, nachdem im November 1963 John F.Kennedy ermordet wurde und in demselben Jahr Martin Luther King seine grossen Sozialphantasien in seiner Rede „I have a dream“ vorgestellt hatte.

In der Bundesrepublik entsteht nicht zuletzt wegen der 1967-68 verabschiedeten Notstandsgesetze eine ausserparlamentarische Opposition, die in die Studentenunruhen der End6oiger führt und 1967 bei Demonstrationen in Berlin gegen den Besuch des persischen Schahs zur Ermordung Benno Ohnesorgs  .Mit dem Einmarsch der Sowjets 1968 in Prag wird die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zerstört. Mit der Ermordung des Studentenführers Rudi Dutschke im selben Jahr treten die Studentenunruhen und –proteste in eine neue agressivere Phase.

Die Bildungsreform der Mitte 6oiger erstrebt Chancengleichheit für alle. Die antiautoritäre Erziehung soll neue soziale Verhaltensweisen und damit gesellschaftliche Veränderung bewirken. Was daraus geworden ist, ist heute allgemein bekannt und erforscht. Die 6oiger sind eine Zeit des deutschen Nachholbedarfs und des Maßstabssprungs. Hatte man sich bisher mit dem kleinen Glück des Wiederaufbaus zufrieden gegeben, begannen jetzt die Forderungen nach Mehr und die Sehnsucht nach einem Anschluß an internationale Standards.

Im Städtebau beginnt der Ruf nach Urbanität durch Verdichtung. Neubau en masse ist angesagt, bei allen Bauaufgaben, vor allem aber im Wohnungsbau. Denn die wieder aufgebauten Städte platzen aus den Nähten. 196o hat sich der PKWbestand gegenüber 195o vervierfacht. Die damaligen Strassendurchbrüche mit dem Ziel einer autogerechten Stadt finden sich bis heute als Planungssünden  in allen deutschen Städten. Dabei werden überkommene städtebauliche Strukturen  geopfert und der Mensch als Planungsziel geht verloren. Der Wohnungsbau erreicht Rekordhöhen, von denen wir heute nur noch träumen können: 195o werden 5,68 Milliarden Wohnungsbauinvestitionen getätigt, 1965 31,96 Milliarden. Diese Investitionen setzen in den Städten den Abriß alter Quartiere in Gang, die von der Zerstörung des 2.Weltkireges verschont worden waren. Da die innerstädtischen Grundstückspreise auf Grund zunehmender Spekulation nicht mehr zu finanzieren ist, beginnt der Bau von Großsiedlungen am billigeren Stadtrand.

Diese Siedlungen sind von Anfang an Schlafstädte und kein „Spielraum für menschliches Leben“, wie der Architekturkritiker Ulrich Conrads in einem Buch forderte. Alexander von Mitscherlich geisselt diese Entwicklung 1965 in seinem Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte“. Er verbindet damit eine Aufforderung zum Unfrieden, den eine studentische Protestgeneration – die 68.Generation - gern aufnimmt. Ein anderes wichtiges Buch dieser Zeit, „Die gemordete Stadt“ von Elisabeth Niggemeyer, Gina Andreß, Wolf Jobst Siedler protestiert 1964 gegen einen zunehmenden „Bauwirtschaftsfunktionalismus“, der die Individualität in der Architekur vernichtet und Gleichförmigkeit zum Ideal erklärt.

Während Richard Neutra feststellt, „Architektur ist doch nichts, was man in den Kühlschrank stellt“ und daraus ableitet, dass ein Haus nichts Statisches ist, sondern sich wie das Leben selbst immer wieder verändert und entwickelt, während die Beatles in den 6oigern mit ihren Songs die Welt verzaubern und 1969 beim Woodstock Festival über eine halbe Million Blumenkinder ihre Musik und ihre neue Freiheit als Aufbruch in ein neues Zeitalter feiern, herrscht in den Bauplanungsetagen der neuen Städte und ihrer Architektur geistige Armut und menschliche Kälte.

Vordergründig geht es um Nachholbedarf und um ein Abbremsen des rapiden Anstiegs von Baukosten, die man meinte, bei der erforderlichen grossen Zahl von Neubauten nur mit industrieller Vorfertigung in den Griff zu bekommen. Diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Der Trinität im Bauen der damaligen Zeit – der Industrialisierung der Architektur, der Dominanz und der Effektivität der Bauwirtschaft sowie der staatlichen Konjunkturplanung- misslingt die Kostenkontrolle und der Mensch als lebendiges Wesen mit physischen und psychischen Bedürfnissen an sein Wohnen und dessen Umgebung geht dabei verloren.

Man kann die freien Architekten an dieser negativen Entwicklung nicht von Schuld frei sprechen. Fasziniert von der Technisierung im Bauen hatte schon die  Avantgarde der 2oiger Jahre von standardisierten Bauteilen in Serie geträumt, die dann vor Ort nur noch preisgünstig und präzise zusammen gesetzt werden müssten. Die Autoproduktion am Fließband war das grosse Vorbild, und nun sollten auch Häuser seriell hergestellt werden. Aber die 2oiger Jahre scheiterten mit diesen Ideen. Denn die Massenproduktion der seriellen Herstellung braucht genügend Abnehmer, und genau dies wurde nicht erreicht. Das war in den 6oigern anders, obwohl auch damals nicht die Quote an Vorfertigung erreicht wurde, die man eigentlich wollte.

Wohnungen wie Maschinen herzustellen – mit diesen Vorstellungen nährten die Architekten den Glauben an die Omnipotenz der Architektur als zweiter Schöpfung. Wie in den 2oigern schraubten die Architekten auch der 6oiger die Erwartungen an Architektur in immer grössere Höhen. Nun sind und waren Architekten immer nur der verlängerte Arm ihrer Bauherren. Ohne diese und deren Geld bleiben ihre Ideale und Träume blosse Papiertiger.

Da die Großsiedlungen, die riesigen neuen Schulbauten zur Überwindung des Bildungsengpasses sowie die zahlreichen neu gebauten Universitäten für eine rasant gestiegene Studentenzahl vor allem städtische Bauten waren, kommt es zu einer ansonsten seltenen Allianz von beamteten und freien Architekten. In der Hand planender Beamter aber verformen sich die Manifeste und Ideen der Architekten zu steifen Regelwerken. Im Dickicht der Baubürokratie, die als Bauherr die riesigen Bauaufgaben händelt, geht die Qualität der Architektur verloren wie die Auffassung, dass Architektur soziale Baukunst ist.

„Hört auf zu bauen,“ forderten die Studenten von den Architekten, wo und wenn diese  zu blossen Erfüllungsgehilfen ökonomischer Interessen wurden und blind und stumm gegenüber den Folgen ihrer Handlungen für die betroffenen Bewohner waren.

Am deutlichsten wird das architektonische Versagen der Bürokratie auch dort, wo sie versucht, Bürgernähe und Transparenz städtischer Arbeit in eine überzeugende Architektur  zu giessen. Waren z.B. die alten Rathäuser Mittelpunkt kommunalen Lebens, der Identifikation der Bürger und der Selbstdarstellung der Gemeinde, so gleichen die neuen Stadthäuser reinen Verwaltungsbauten, die ihre Entscheidungen und Dienstleistungen in eine glatte und nüchterne Architektursprache umsetzen, die denen der Großsiedlungen in nichts nachsteht.  Das Leitbild ist die Stadt als Firma, und mit fortschreitender Zeit und einem neuen Anwachsen kommunaler Aufgaben gewinnen die Stadthäuser an Größe und Höhe und wetteifern mit Banken und Konzernen. Bonn und Essen und andere Großstädte lassen grüssen.

Fast alle Bauten dieser Zeit sind aus Beton, einem Material, das inzwischen Gottseidank wieder glaubwürdig geworden ist, damals aber allgemein verdammt wurde. Otto Normalverbraucher steht der Schönheit und der Formbarkeit des Beton, wie Architekten ihn lieben, bis heute skeptisch gegenüber. Der glatte Beton überfordert ihn, vor allem wenn er als geistlos vorgefertigtes Material eingesetzt wird, dessen Massierung langweilt. Gefällt sich der Brutalismus der 6oiger in seiner offenen Zurschaustellung von Konstruktion, technischer Installation und des schalungsrau belassenen Betons  in den Augen der Fachleute als „ehrliche Architektur“ und als Anpassung an den internationalen Stil, so fällt er bei normalen Nutzern in seinem massiven Auftreten als eintönig durch. Im Gegensatz zu Fachleuten kann nicht jeder Laie in einer grauen Betonwand ein ästhetisches und gestalterisches Ereignis sehen.

Eine der wichtigsten politischen Vorstellungen der 1960er Jahre, die dann auch in Architektur umgesetzt wurde, ist der Glaube an die grosse gebaute Maschine für eine Institution mit vielen Abteilungen unter einem Dach. Davon versprach man sich eine bessere Kooperation, eine grössere Effizienz und geringere Kosten. Alle diese Vorstellungen erfüllten sich nicht.

Die Entwicklung, die auf Einheitlichkeit setzte statt auf Individualität, die Systemplanung anstelle individueller Grundrisse feierte, die elementiertes statt handwerkliches Bauens bevorzugte, scheiterte auf breiter Linie. Am Ende dieser Entwicklung steht die Rigorosität einer Universität Bochum mit ihrer Baumassenkonzentration, der anonymen Monotonie ihrer Einzelbauten und dem sturen Raster ihrer Gesamtanlage.

Bochum bleibt ein gigantischer Einzelfall, der die in sie gesetzten Hoffnungen wirtschaftsstruktureller Innovation und einer Aufwertung der Region zwar erfüllte, aber der bauliche Preis war zu hoch. Ordnung und Schönheit der Wiederholung sind eine abstrakte Grösse, die auf dem Papier, aber nicht unbedingt im wahren Leben funktioniert. Die Metastadt Wulfen, 1965 als Experiment des flexiblen Wohnungsbaus gefeiert – ein Stahlstecksystem, in das an jeder Stelle und Höhe Wohncontainer wie Schubladen hinein geschoben werden konnten-  hat nie funktioniert und wurde 1988 abgerissen. Die meisten Menschen haben zu dieser technischen Modernität kein Verhältnis und wohnen lieber wie gewohnt.

Als der Architekt Josef Lehmbruck 1971 seinen Protest gegen anonyme Bauten, Stadtzerstörung und Entmündigung des Bürgers in der Ausstellung „Profitopolis“ formuliert, haben alle studentischen Demonstrationen gegen die geschilderte Massenarchitektur noch nichts verändert. Das einmal angeschobene Verfahren der Vorfertigung brauchte eine lange Zeit, um zum Stillstand zu kommen. Selbst das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, das für ein radikales Umdenken im Städtebau und für die Entdeckung des Wertes alter Bausubstanz steht, ist nicht das Ende der Proteste gegen eine Architektur, die Aspekte der Wirtschaftlichkeit höher bewertet als kleinteilige Gestaltung und Atmosphäre. Der Großbau des Klinikums Aachen – 1971-78 – ist dafür vielleicht das beste Beispiel. In diesem verspäteten Traum(a) der 6oiger von der grossen Maschine kann sich der Mensch nicht wohlfühlen.

Wie mein Vortrag hoffentlich deutlich gemacht hat, ist Richard Neutra und seine Architektur in den 1960er Jahren zwar geachtet, aber nicht mainstream. Ausser ihm gibt es aber noch eine ganze Reihe von Architekten in der Bundesrepublik, die wie er auf individuelles Bauen setzen und an denen die geschilderte Entwicklung vorbei geht. Die stattdessen in Kreativität und mit Beharrungsvermögen dem totalen Ausverkauf von Baukunst entgegen wirken.

Ihre ebenso häufig nüchterne wie subtile Architektursprache bringt ganz unterschiedliche Gestaltungen hervor: zeitlos elegante Gebäude wie z.B. die 1962 in Bonn errichtete Universitätsbibliothek von Fritz Bornemann und Pierre Vago. Oder 1964 das Lehmbruckmuseum in Duisburg, das der Architekt Manfred Lehmbruck seinem ihm kaum bekannten Vater, dem Künstler, errichtete. Das Museum zählt in seinem Gegensatz von Transparenz und Geschlossenheit, von Konzentration und Kontemplation, zu den faszinierendsten Bauten seiner Zeit. Oder die geschwungene Architekturskulptur des Schauspielhauses Düsseldorf von Bernhard Pfau, die mit der kühlen Eleganz des Dreischeibenhauses von HPP bis heute wunderbar kontrastiert. Während, wie geschildert, viele Rathäuser dieser Zeit gesichtslose Verwaltungen sind, besticht das Museum Bensberg 1964 von Gottfried Böhm als symbolhafte Burg für seine Bürger. Wie eindrucksvoll und individuell eben dieser Architekt mit Beton baut, macht seine faszinierende Kirche in Neviges deutlich, eine Art gebauter Kristall von spiritueller  Wucht.

Wo Architekten gegen die Zumutungen eins ausschließlich ökonomisch verstandenen Rationalismus aufbegehren und das Kontrasterlebnis sinnlicher Vielfalt statt glatter Einheitlichkeit suchen, entsteht auch in dieser Zeit eindrucksvolle Architektur. So die Versöhnungskirche von Helmut Striffler in Dachau 1968, die sich mit langen Gängen wie in das Innere der Erde hinein bohrt. Sie ist eine der unbekanntesten, aber eindrucksvollsten Bauten der 6oiger Jahre, bis heute ein seltenes Denk-Mal wie die Bauten Neutras.