Wenn eine Architekturkritikerin das Glück hat, auf einen ihr unbekannten Bau von grosser Qualität zu stossen und dann noch zu entdecken, dass auch viele andere, sonst sehr gut informierte Kollegen noch nie von diesem Bau gehört haben, dann steht sie oft vor der Frage, ob sie über das gefundene Juwel schreiben oder es verschweigen soll.
Zuviel Aufmerksamkeit und eine Fülle von Besuchern tun bekanntlich keinem Ort gut. Doch vor einem ungezügelten Architekturtourismus kann sich das Benediktinerkloster in Vaals, um das es geht, vermutlich selbst effektiv schützen, indem es seine Tore geschlossen hält.
Sankt Benedictusberg in Vaals, einige Kilometer von Aachen entfernt auf holländischem Boden, wurde 1893 von deutschen Mönchen gegründet. Der Grund: wegen des Kulturkampfes unter Bismarck durften deutsche Abteien damals keine Novizen aufnehmen, Die Abteil war die erste Neugründung des Benediktinerordens in den Niederlanden seit der Reformation.
Nach schweren Zeiten im 1.Weltkrieg begannen die Bauarbeiten für das Kloster nach Plänen von Dominikus Böhm und Martin Weber erst 1922 Es entstand eine regelmüssige Viereckanlage mit zwei mächtigen Ecktürmen. Nur der unterschiedliche Mauerverbund des unverputzten Backsteines, aus dem der ganze Bau besteht, sowie die verschiedenen Farbtönungen lockern die wuchtige Schwere des burgartigen Geviertsbauf. Um den quadratischen Innenhof legen sich Kreuzgang, Refektorium und Mönchszellen, die aussenstehende Besucher aber nicht sehen.
So beeindruckend die kraftvolle Anlage ist, der eigentliche Höhepunkt des Ensembles ist ein neueres Gebäude. Böhm und Weber hatten als Ergänzung der Abtei eine Kirche vorgesehen, die jedoch wegen chronischen Geldmangels jahrzehntelang nicht begonnen werden konnte. Erst 1962 hatte man genügend Geld für den Bau der Unterkirche, die Krypta. 1968 wurde darüber auch die eigentliche Abteikirche fertig.
Ihr Architekt, der im Inneren des für die Öffentlichkeit unzugänglichen Klosters noch ein Refektorium und eine Bibliothek errichtete, ist der weitgehend unbekannte Benediktinermönch und Architekt Dom Hans van der Laan. Sein Name ist in keinem Architektur-oder Kunstlexikon verzeichnet; jedenfalls war das bei meinem ersten Besuch vor ca. 20 Jahren so. Inzwischen hat Wikipedia mit zahlreichen Quellen und Informationen nachgelegt.
Die Qualität von van der Laan ist unstrittig die eines grossen zeitgenössischen Architekten. Er wurde 1904 in Leiden geboren, studierte Architektur in Delft und trat 1927 in die Benediktinerabtei Oosterhout ein Seit 1968 war er Mönch in Vaals, wo er 1991 starb. Sein kaum bekanntes Buch „ Der architektonische Raum“ und das Werk Richard Padovans über ihn „Dom Hans van der Lahn, Modern Primitive“ weisen ihn als Architekten aus, der nach einem System von Maßregeln und nach mathematischer Harmonie suchte, „ die jeder echten Architektur als Grundlage dient“.
Er fand sie im Rahmen seiner architektonischen Forschungen im Steinkreis des prähistorischen Stonehenge bestätigt, in der radikalen Geometrie der Cheopspyramide und im Aufbau des griechischen Tempels. Die Bezeichnung dieser Architektur als „primitiv“ allerdings weckt Assoziationen, die mehr als zweifelhaft sind.
Ausgehend von seiner Zahlenharmonie entwarf van der Laan für sich eine Architekturtheorie, die sich mit dem strengsten Rationalismus vergleichen lässt. Danach ist Architektur nichts anderes als Geometrie angewandt auf feste Materie. Die „Formenbank“, die van der Lahn für seine Bauten und auch für Vaals entwickelte, ist demzufolge ein System von Bauteilen, deren Maße und Proportionen mit – und untereinander korrespondieren. Diese Ausgewogenheit und Harmonie teilt sich dem Besucher als grosse Ruhe mit. Wer in dem großartigen, strengen Raum der Kirche steht, fühlt sich auch als Nichtgläubiger angekommen und weit weg vom Alltag.
Wer sich der Benediktinerabtei, die ein wenig abseits der Strasse liegt, von aussen nähert, erblickt über einer hohen Mauer den oberen Teil der Kirche, einer römischen Basilika nicht unähnlich Böhm hatte die Kirche parallel zum Klostergeviert geplant, van der Lahn setzte sie im rechten Winkel dazu und begrenzte so einen weiteren Innenhof. Seine Krypta und die eigentliche Abteikirche sind kunstlose Räume von großer Kraft und Eindringlichkeit. Man spürt ihr Ebenmaß, ohne es ablesen zu können. Dreiseitig umlaufende Fenster gleicher Größe holen Licht in den nüchternen, fast nackten Raum der Kirche, deren Materialien geschlemmte Ziegel und der Beton über den Durchgängen sind.
Einfachste Details des Altares, Gestühles und der Lampen vertiefen den Eindruck von präziser Perfektion.
Der Raum der Kirche spricht von sichtbar gemachter Vernunft, gleichwohl erschreckt einen die nüchterne Schönheit, wie man annehmen könnte, keineswegs. Im Gegenteil – man ist angerührt durch eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit und Dauer. Dies begegnet einem in zeitgenössischer Architektur nicht häufig. Und sehr viel mehr Besuchern als vor zwanzig Jahren begegnet man auch heute nicht.