Norwegen wurde in der Vergangenheit von Wanderfreunden, Ski- und Skisprungbegeisterten sowie Fjordliebhabern besucht. Architekturinteressierte wussten um die Skianlage am Holmenkollen, das Kontiki-Museum mit den Schiffen Thor Heyerdahls, das monumentale Ziegelgebäude des Rathauses, die Festung Akershus und eventuell auch um das Architekturmuseum, das von dem großartigen norwegischen Architekten Sverre Fehn erbaut wurde.
Die genannten Bauten lagen alle in der Hauptstadt, die noch mit anderen Sehenswürdigkeiten wie dem Königlichen Schloss aufwarten konnte. Aber wirkliche Architekturmagneten gab es nicht. Vor ca. 20 Jahren war Oslo die nördlichste Hauptstadt Europas, vom Namen her bekannt, aber nicht berühmt, und sie galt als provinziell und verschlafen. Lediglich die Anfahrt mit dem Schiff nach Oslo konnte einem auf Grund der großartigen Landschaft und der malerischen Inseln im Fjord, an dessen Ende Oslo liegt, den Atem nehmen.
Die Stadt hatte dieselben Probleme wie andere Großstädte Europas. Sie erstickte am Autoverkehr und zahlreiche Industriebetriebe hatten Pleite gemacht und lagen danieder. Eine moderne Infrastruktur existierte nicht, innerstädtische Häfen waren verkommen und mussten verlegt werden, um Stadterweiterungen Platz zu machen. Und diejenigen Menschen, die sich in ihrer Freizeit und auf Reisen für moderne und außergewöhnliche Architektur interessierten und sie besichtigen wollten, fanden in Oslo nichts, was sie interessierte.
Das neue Denken in Richtung einer innovativen zukünftigen Stadtentwicklung nahm erste Gestalt an im Jahre 1982 in Aker-Brygge, direkt am Hafen auf einem Industriegelände, wo eine innerstädtische Werft aus dem Jahre 1854 Konkurs anmelden musste. Das Gelände wurde von der Stadt übernommen, und so begann die Verwandlung weg vom „schmuddeligen Industriehafen-Image“ ähnlich wie in Hamburg, London und Rotterdam.
Zwischen 1986 und 2004 entstanden hier Läden, Cafés, Restaurants und jede Menge Wohnungen, die eine überzeugende Symbiose aus alten umgebauten Fabriken und neuer Architektur bildeten. Aker-Brygge wurde ein Erfolg, wenn auch ein teurer. Vor allem aber machte das Ergebnis Oslo Mut, nach diesem ersten Erfolg weiter zu planen und zu bauen.
Heute ist die Stadt ein Magnet, der wahre Völkerscharen anlockt. Jeder will nach Oslo, jeder kommt nach Oslo. Das ältere Publikum kommt wegen der neuen Museen und kulturellen Angebote, die Jungen wegen eines neuen Lebensgefühls, das Freiheit mit Laissez Faire verbindet. In den weißen Nächten, als ich im Juli dort war und es über sieben Tage heiß wie am Mittelmeer war, feierte die Stadt ihre neue Attraktivität von morgens früh bis in die hellen Stunden nach Mitternacht.
Auf Aker-Brygge folgte ab dem Jahre 2000 das größte innerstädtische Stadterneuerungs- und Erweiterungsprojekt in der Geschichte Oslos. Fjord City, ein über 10 km langer Küstenstreifen, wurde völlig „neu gedacht“. Hier entstanden, eng bebaut und unterschiedlich hoch, Wohnbauten mit qualitätsvollen Häusern. Das sog .Barcodeviertel der holländischen Architekten MVDV, die für ihre innovative Architektur bekannt sind, folgt der klaren geometrischen Ordnung eines Strichcodes und wirkt dennoch aufregend gerade für junge Menschen.
Zentraler und mit besserem Ausblick auf das Wasser kann man in Oslo nicht wohnen. Schwimmende Saunen und ein Schwimmbecken im ehemaligen Hafenbassin laden sozusagen ein, mit einem Kopfsprung vom eigenen Balkon Erholung im Wasser vor der Haustür zu suchen. Hier findet man auch die aufregendsten neuen Kultur - Architekturen, zu denen es die zahlreichen Besucher Oslos hinzieht,: die neue Oper und Lambda, das Hochhaus des Munch-Museums, das erst kürzlich fertig wurde und die größte monografische Sammlung der Welt über Edvard Munch, den norwegischen Kunstheros, beherbergt.
Die Oper, ein riesiger Bau von 38.500 Quadratmetern Fläche und mehr als 1.100 Räumen, entworfen von Norwegens bekanntestem Architekten Snohetta und schon 2008 eröffnet, liegt wie eine gleißende Eisskulptur, die aus zahlreichen scharfkantigen Schollen gebildet wird, am Fjordufer. Ihre Gestalt folgt dem gemalten Vorbild in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Der Bau, der die geschätzten Kosten von 520 Mio. EUR einhielt, besteht fast ausschließlich aus Schrägen. Das Dach, das man von allen Seiten besteigen kann wie einen Berg ist in weißem Marmor ausgeführt.
Wer der Oper aufs Dach steigt, um von hier den Ausblick auf den Fjord zu genießen, um zu picknicken oder spazieren zu gehen, muss aufpassen, denn die Dachneigung ist trotz der Stolpersteine, die gegen ein Ausrutschen eingebaut wurden, höchst gefährlich und bisher für manchen Unfall gut gewesen. Aber wo sonst auf der Welt kann man junge Menschen in Badehosen dabei beobachten, wie sie dem Wasser des Fjords entsteigen, sich schütteln und dann im Laufschritt die Oper erstürmen, um sich zum Trocknen auf den heißen Marmor in die Sonne zu legen?
Innen ist der ganze Bau in Holz verkleidet und erscheint warm und einladend. Von innen durch die großen Fensterschrägen wirken die Spaziergänger auf dem Dach, als würden sie durch das Glas nach innen fallen. Die Oper hat drei Säle, zwei kleinere und einen großen mit 1350 Sitzen . Von jedem dieser Sitze kann man ein Opernlibretto in acht Sprachen mitlesen, was vermutlich so einmalig ist wie der Bau selbst.
Unweit dieser spektakulären Oper steht das Munch-Museum, ein Hochhaus mit 13 Etagen, gebaut von dem spanischen Architekten Juan Herreros. Es dauerte über zehn Jahre, bis die Diskussionen und die Entscheidung über die exzentrische Gestalt des Hauses, das im oberen Teil abknickt, als wolle es eine Verneigung in Richtung Stadt machen, abgeschlossen waren. Dennoch geht die Kritik an diesem
wuchtigen Bau auch nach seiner Fertigstellung weiter. Die Idee Herreros, keinen in der Fläche ausgedehnten Museumsbau zu errichten, sondern das Thema Museum vertikal zu realisieren, findet nur bei wenigen Menschen Beifall. Das Haus, mit grauem recycelten und perforierten Aluminium verkleidet, spiegelt das Licht des Himmels und des Wassers wieder, aber nur, wenn die Sonne scheint. Sonst wirkt es eher trist. Aber im Winter ist es in Oslo monatelang grau. Das verstärkt die düstere Monumentalität des Museums, das seine Umgebung als übergroßes Denkmal für Edvard Munch überragt.
Das Munch-Museum ist das weltweit größte, das allein einem Künstler gewidmet ist. Munch war ein geradezu besessener Maler und hinterließ sein reiches Oeuvre der Stadt Oslo. Da er wenig sorgfältig mit seinen Bildern umging, erbte die Stadt nicht nur eine schier unübersehbare Zahl an Gemälden, Zeichnungen und Skizzen, sondern auch extreme Kosten, diese alle zu restaurieren. Viele der Kunstwerke waren in einem erbärmlichen Zustand, als man sie fand. Denn der Künstler hatte sie in Badezimmern, Hundehütten, Garagen und im Freien unter Bäumen geparkt und sich um ihre Erhaltung nicht gekümmert. Von etlichen Bildern gibt es mehrere Ausführungen. So existieren von „Der Schrei“ drei Versionen, die zwar alle ausgestellt, aber wechselweise verhängt sind, damit immer nur ein Bild sichtbar ist. Damit ist ein direkter Vergleich für die Besucher unmöglich.
Erschlossen wird das Museumshochhaus durch Rolltreppen in jedes Geschoss. Sie liegen im Bereich hinter dem Eingangsfoyer, einem hellen und einladenden Raum mit zahlreichen Sitzflächen, wo man auch einmal ein Nickerchen machen kann, wenn einen die Besichtigung der Kunst in den zahlreichen Sälen erschöpft hat. Wegen der Nähe zum Wasser und auf Grund eines kleinen Strandes vor dem Museum ist aber auch ein Sprung ins kühle Nass möglich ähnlich wie an der Oper. Die Norweger lieben dieses unkonventionelle Miteinander aus Kultur und Bewegung.
Bei den eigentlichen Ausstellungsräumen des Museums vermisst man eine gewisse Großzügigkeit. Sie sind teilweise mit temporären Wänden schlecht unterteilt, so dass man leicht die Orientierung verliert. Das aufregende Duo aus Munch-Museum und Oper wird ergänzt durch die Deichmann- Bibliothek, in der die Stadtbibliothek Oslos untergebracht wurde. Sie steht auf einem kleinen, aber sehr „prominent gelegenen Grundstück“ direkt am Fjord. Der 5 geschossige Bau von Lund Hagern und Atelier Oslo kragt in seinem oberen Teil als Dreieck 20m aus, verrät in seiner gewagten Balance aber von außen nichts über seine Funktion.
Der Eingang ist eher unauffällig, umso überraschender ist das Erlebnis, wenn man eintritt. Man steht in einem unregelmäßigen, hellen Raum von der Gesamthöhe des Baus. Rolltreppen, die wie Skulpturen wirken, durchqueren ihn und erschließen die verschiedenen Etagen, die an den Rand des Baus gelegt sind und die Mitte bis unter das Glasdach frei lassen. Wohin man schaut Bücher in offenen Regalen. Kein Wunder, dass dieser schwebende Raum in seiner eleganten Leichtigkeit und Atmosphäre 2021 zur „Weltbibliothek des Jahres“ gewählt wurde, und einer der schönsten Innenräume der Architektur der letzten Jahre ist.
Der riesige Raum mit seinen scheinbar zufällig platzierten Arbeitsplätzen, mit Treppen zum Sitzen, Ecken zum Spielen, Matratzen zum Entspannen, Spielräumen für kleine Besucher und den schönen Buchegalen wirkt trotz seiner Vielgestaltigkeit geordnet. Seine dezente Farbigkeit in Schwarz-Weiß-Grau unterstützt die entspannte Atmosphäre. Trotz zahlreicher Besucher ist es hier ruhig. Nur das Summen der Rolltreppen liegt in der Luft. Die Bibliothek ist von morgens früh bis spät abends geöffnet, und das an sieben Tagen die Woche. Eintritt und Aufenthalt kosten nichts, auch nicht für müde Touristen, die im quirligen Oslo eine Oase zum Ausruhen suchen und hier finden können.
Zwei weitere Museen sind noch zu erwähnen, die nach Größe und Gestaltung nicht unterschiedlicher sein könnten. Das eine ist das Nationalmuseum, eines der größten Kunstmuseen Europas, und liegt mitten im Zentrum. Es wurde von dem deutschen Architekten Klaus Schuhwerk gebaut und 2022 eingeweiht. Das riesige, niedrig gelagerte Bauwerk ist sparsam gegliedert und mit Schiefer verkleidet. Die Architekturkritik verdammt das Haus als langweilig, was es keineswegs ist. Es verzichtet lediglich auf übertriebene Gestaltung und setzt dafür auf eine grosse Präzision der Ausführung. Die einzige Extravaganz ist die 2400 qm große Empfangs-Lichthalle, von der aus alle Teile im Museum zu erreichen sind. Das Haus beherbergt frühgeschichtliche und religiöse Kunst Norwegens sowie Malerei und Plastik aus allen Jahrhunderten.
Am Ende von Aker-Brygge im neuen Städtebauquartier Tjuvholmen findet man das 2012 eröffnete Museum Astrup-Fearnley. „Das Haus ist ein organisches Labyrinth aus Kanälen, Brücken und Rasenflächen, und soll an eine kleine Stadt erinnern, in der die Kunst Zuflucht gefunden hat,“ schreibt der offizielle Osloführer. Glückwunsch, wenn Sie sich darunter etwas vorstellen können! Richtig ist, daß das scheinbar kleine Museum ein Architekturjuwel aus schönen Räumen und wunderbarem Licht ist, wie es von einem der weltbesten Architekten, dem Italiener Renzo Piano, nicht anders zu erwarten war.
Das Haus besteht aus zwei Teilen für die Dauer- und Wechselausstellungen und wird von einem Kanal getrennt. Auf den ersten Blick erscheint der Bau klein, hat in Wirklichkeit aber zahlreiche, raffiniert geschnittene Räume für „seine hochkarätige Sammlung“ zeitgenössischer Kunst von Anselm Kiefer, Jeff Koons, Andreas Gursky, Andy Warhol und Damian Hirst. Nirgendwo in Oslo ist auf Grund des nahen Strandes die Intimität zwischen Kunsterlebnis und Sonnenanbetern so groß wie hier. Im kleinen Foyer des Museums sind Menschen im Badeanzug keine Seltenheit.
Oslo ist die grünste Hauptstadt Europas. Der öffentliche Raum ist lässig, aber gepflegt, voller Cafés und interessanter Läden. Überall stehen Skulpturen. Man merkt, dass Norwegen reich ist, aber es wird nicht damit angegeben.