Gerne hätte man David Chipperfield, dem Direktor der Architekturbiennale 2012, eine wegen riesigen Interesses überlaufene Veranstaltung gewünscht. Aber nie zuvor habe ich so wenige Besucher erlebt; sowohl in den Giardini als auch im Arsenale herrschte an meinen drei Besuchstagen eine fast gähnende Leere. Woran es lag, ob am Thema oder an einer Übersättigung mit Architekturausstellungen, war nicht heraus zu bekommen.
Was nach dem Willen Chipperfields, dieses sympathischen Pragmatikers, eine "Biennale der Bescheidenheit" hätte werden sollen, war in vieler Hinsicht ein konventioneller Auftritt, in weiten Teilen nüchtern, übersichtlich und ohne das gewohnte Chaos, das beispielsweise den Zentralen Pavillon regelmässig in ein Labyrinth verwandelt, wo einen die Klaustrophobie packt.
Aber Ordnung und Bodenständigkeit statt Feuerwerk und Glamour machen nicht unbedingt eine erfolgreiche Architekturbiennale, obwohl man sich für Architekturstudenten keine informativere Ausstellung über die Bandbreite architektonischen Schaffens als diese hätte vorstellen können. Nicht nur verrückte, sondern auch beeindruckend umfassende Arbeiten wie im dänischen Pavillon über Grönland nach der Eisschmelze waren zu begutachten.
Hier der zu Recht allgemein gelobte deutsche Beitrag mit seiner unaufgeregten Ausstellung "Reduce Reuse Recycle", die grandios beweist, daß ein Abriß des ungeliebten Nazipavillons völlig überflüssig ist, weil ein guter Kurator mit dem viel geschmähten Raum alles machen kann. Dort der Torre David in Caracas, Venezuela, vorgestellt von der Gruppe Urban Think Tank, eine Bauruine von 45 Stockwerken, unbewohnbar, aber von Bewohnern erobert, ein "Schreckensturm", aber angeeignet von darin ohne Wasser und Strom lebenden Besetzern. Zwischen diesen beiden Extremen lassen sich alle Tätigkeiten eines Architekten ansiedeln.
David Chipperfield, ein "stiller Star" dem man im Vergleich zu vielen seiner arroganten Kollegen mit Hochachtung und nicht mit Kopfschütteln begegnet, hatte als Thema der diesjährigen Biennale "Common Ground" ausgegeben. Das ist im Englischen nicht nur ein physischer Begriff – öffentlicher Raum, nicht nur "lokale Verantwortung", sondern "Ausdruck einer Haltung", einer "Gemeinsamkeit, einer Zugehörigkeit, eine Art Konsens, auf dem ein Miteinander basiert". Ein Begriff, der Architektur in Bezug auf den öffentlichen Raum versteht und nicht nur als einsame Spitzenleistung eines Einzelnen begreift, sondern als Teamwork, ein Begriff, der mehr Alltag im Bauen meint als gestalterische Höchstleistungen.
Für viele Teilnehmer der Biennale – ob Einzelarchitekten oder nationale Pavillons – war dieser Begriff zu ungenau, zu allgemein, um sich dazu etwas Überzeugendes einfallen zu lassen. Andererseits gehört es zum Usus der verschiedenen Biennalen, sich weder um die Vorgaben des Direktors noch um sein Thema zu kümmern. Die Selbstdarstellung von Architekten, die sich als Stars sehen und nicht dreinreden lassen wollen, verbietet wohl dergleichen.
Hatte Chipperfield noch gesagt, er werde nervös bei dem Gedanken, "aus der Architektur sogenannter Ikonen Identität zu beziehen", daß also nur Museen und Opernhäuser als Maßstab für zeitgenössische Architektur gelten, so realisierte Vittorio Magnago Lampugnani in seinem Beitrag genau das, allerdings auf dem niedrigeren Niveau von Bürobauten. Er stellte die ziemlich eintönige Basler Campus Architektur der Bürohäuser des Chemiekonzernes Novartis als vorbildliche "Stadt" aus, dies eine komplette Absage an "Common Ground", denn das Firmengelände ist nichts als eine hochbewachte gated community mit einem Zutritt nur für dort Arbeitende. Einen "Ausrutscher" nannte die Bauwelt dieses Projekt, das die Biennale ihrer Meinung nach hätte ablehnen sollen. Überhaupt wäre es einmal interessant zu erfahren, wer sich womit für eine Ausstellung in Venedig beworben hat und nicht akzeptiert wurde.
Daß nicht jeder Star nur eigenen Glamour sucht, beweist ausgerechnet OMA mit einer kleinen Ausstellung von vierzehn grossen öffentlichen Bauten Europas, die in den 1960er und 1970er Jahren von öffentlichen Bauämtern realisiert wurden, also von begabten, beamteten Kollegen, an deren Abschaffung die freiberuflichen Architekten seit Jahrzehnten durchaus erfolgreich arbeiten. "Common Ground" als Basis für eine gemeinsame Verantwortung braucht aber begabte Architekten auf jeder Seite.
In den großartigen Räumen des Arsenales steht der "Autismus" (FAZ) und die Selbstdarstellung der Architekten im Vordergrund. Man verkauft sich hier, wie es einem gefällt. Vieles mutet wie zufällige Verlegenheitslösungen an, anderes wie die zugegebenermassen schönen, neoklassizistischen Modelle von Hans Kollhoffs Bauten aber auch langweilig, weil man sie seit Jahren kennt. Auch Herzog & de Meurons grosse Presseschau zu der Hamburger Elbphilharmonie thematisiert eher den Bauskandal mit seinen unentwegten Preissteigerungen als die Qualität des Entwurfes. Traumhaft und geradezu poetisch dagegen das Riesenmodell eines kleinen Dorfes auf den vom Tsunami heimgesuchten Miyato-Jima Inseln in Japan, das von SANAA nach seiner völligen Zerstörung wieder aufgebaut wird.
In den Giardini sind die Ausstellungen nicht auf einzelne Architekten konzentriert, werden dadurch aber nicht unbedingt interessanter.
Der kanadische Pavillon verführt mit dem Geruch frisch geschnittenen, vertikal gestellten Holzes, das in unterschiedlicher Höhe zu einer gigantischen, aber wenig informativen Landschaft oder Skyline geschichtet ist. Die Niederländer, normalerweise sozial engagiert und lebendig, scheinen den ganzen Biennale Zirkus auf den Arm nehmen zu wollen. Sie stellen nichts aus, nur ein Vorhang rückt alle 90 Sekunden durch den Rietfeld Pavillon vor und verändert den Raum wie auf einer ständig ins Stocken geratenden Reise. Die Österreicher schicken ihre Besucher in tief gebückter Haltung durch den Eingang des von Josef Hoffmann gebauten Pavillons, um sie dann einer raffiniert gemachten, aber unverständlichen Inszenierung auszusetzen. Der ägyptische Pavillon mit seiner vergangenheitsträchtigen Bogenarchitektur voll arabischer Schriftzeichen stimmt bedenklich hinsichtlich der politischen und architektonischen Zukunft des Landes Da war Hassan Fathy vor fünfzig Jahren schon weiter. Im serbischen Pavillon füllt den ganzen Raum ein gigantischer weisser Tisch, den grosse Gruppen durch Trommeln darauf zum Klingen bringen können. Aber was tut ein Einzelner hier? Raffiniert durchaus der russische Pavillon, wo man durch zahllose Gucklöcher die vielen verbotenen Städte der früheren Sowjetunion betrachten kann, in denen der Staat - den damaligen Bewohnern des Riesenreiches unbekannt - geheime Forschungen jeder Art betrieb.
Was kann man von einer Architekturbiennale erwarten, die der deutsche Bauminister Ramsauer stolz als größte Show der Welt titulierte? Daß sie noch grösser wird? Daß sie noch mehr Elfenbeintürme zeigt? Das das Sensationelle und das Exzentrische in der heutigen Architektur noch stärkere Hervorhebung findet? Denn das Kleine und das Nachdenkliche gehen auf der Biennale verloren. Und commitment in der Architektur, also das geduldige Eingehen auf die Wünsche und Nöte der Nutzer, das Chipperfield fordert, kommt nicht oder kaum zu Wort, ebenso wenig wie die Probleme des Bodenrechtes, über die öffentlicher Raum erst möglich ist.
Für meine Begriffe kann es auf einer Architekturbiennale nicht um fertige Lösungen oder erreichte Ziele gehen, das wäre langweilig. Vielmehr müßte die Biennale ein Think Tank sein, wo es um Diskussionen geht, um Anstösse, um Prozesse, kurz um Einsichten in das, was in und um und mit Architektur möglich ist.
Ingeborg Flagge