„Wenn Du mich fragst, was Identität sei, weiß ich es nicht. Wenn du mich nicht fragst, weiß ich es“. Diesen Ausspruch tat El Lissitzky natürlich über „Kunst“, aber für „Identität“ macht er ebenso Sinn.
Denn der Begriff ist vieldeutig. Fachlich meint er die Echtheit und Struktur persönlich gemachter Erfahrungen; er beruht auf Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung und ist transitorisch, d.h. er verändert sich ständig. Anders ausgedrückt meint Identität die Übereinstimmung der Kenntnisse und Werte eines Menschen mit seiner Umgebung, das eigentümliche Gefühl, sich an einem Ort zu Hause fühlen, ohne genau beschreiben zu können warum. Frank Lloyd Wright fand dafür die schöne Beschreibung: „Ob die Menschen sich dessen…bewußt sind oder nicht, sie beziehen Zuversicht und Nahrung aus der Atmosphäre der Dinge, in oder mit denen sie leben. Sie wurzeln darin wie eine Pflanze in ihrem Boden“.
In der Regel sind Stadtviertel mit hohem Identitätsgrad historisch gewachsen, mit farbigen, reich dekorierten Häusern, Vorgärten, Plätzen, altem Baumbestand, Kneipen, kleinen Läden, lebendig, vielgestaltig, detailreich. Sie sind Spielraum für Leben und Ankerplätze für die Seele. Die meisten Menschen fühlen sich in diesem Kontext mit ihren unterschiedlichen Lebensstilen, Träumen, Werten und Ängsten wohl.
Identität ist hier eine kollektive Erfahrung.
Daß dies auch in Vierteln mit zeitgenössischer Architektur möglich ist, scheint mir unzweifelhaft, auch wenn es eher selten ist. Das liegt daran, daß alte Bauten fast immer den direkten emotionalen Weg ins Herz des Betrachters finden. Zeitgemäße Häuser dagegen sind für die meisten Mensch schwer verdauliches Schwarzbrot und sie sind ihnen gegenüber misstrauisch. Doch wenn Ort, Atmosphäre und Gestaltung stimmig, selbstverständlich und sinnstiftend ineinander greifen, müßte sich Identität einstellen. Identifikation findet bekanntlich dort mit einem Objekt statt, sei es ein Bau oder ein Teil der Stadt, wo etwas so charakteristisch ist, daß es Eigenart hat, und so grundsätzlich, daß es scheinbar gar nicht anders sein kann.
„Orte“ sind eine schwierige Materie. Sie sind nicht einfach Grundstück oder Baugrund, sie sind Grund-Lage für Identität. Heidegger hat deutlich gemacht, daß Denken mit Ortserfahrung verbunden ist. Ohne beides kein Gefühl von Geborgenheit . Der Mensch baut nur von konkreten Orten seine Beziehung zur Welt auf, auch in Zeiten zunehmenden Unterwegseins. Wir benötigen den Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen, zum Überleben. Peter Sloterdijk fordert in „Der ästhetische Imperativ“, daß jeder Mensch an seinem Ort eine Art „Weltinsel“ erleben kann. Das nennt er Heimat.
Das Verständnis für einen Ort ist nicht einfach da. Es muß erarbeitet werden, mit Neugierde und Erfahrung. Orte erzählen meist eine Geschichte und bilden eine Realität, die in ihren Formen und Räumen zutage tritt. Aber über ihre materielle Beschaffenheit hinaus werden Orte von kulturellen Befindlichkeiten geprägt. Diese zu verstehen erfordert vom Planer oder Architekten Sensibilität und Akribie.
Es gibt keine Orte ohne Geschichte. Aber viele Orte sind sich heute selbst entfremdet. Ihr Gedächtnis ist sich seiner physischen und kulturellen Werte nicht mehr sicher. Hier muß verschüttetes Bewusstsein wieder geweckt werden. Dabei können Beeinträchtigungen in Tugenden und Schwierigkeiten in Charakteristika verwandelt werden.
Nur wenn es Architekten gelingt, die Lebensbedingungen eines Ortes auszuloten und durch Bauten von atmosphärischem Reichtum zu ergänzen, die Menschen entdecken, adaptieren, erinnern, lieben und vererben können, können sie sich einen neuen Ort aneignen. Dann ist Identität kein Problem mehr.
Man mag über die traditionellen baulichen Aktivitäten eines Prince Charles in seinem Dorf im südenglischen Poundbury lächeln, aber ihm und seinen Architekten gelingt dort das Kunststück, einen neuen Ort zu bauen, aus dem die Bewohner unter keinen Umständen mehr weg wollen und tausende Interessenten Schlange stehen.
Die Atmosphäre eines Hauses oder Ortes zu beschreiben und zu analysieren, ist die wohl schwerste Komponente, wenn es um Identität geht. Atmosphäre ermöglicht ein Sinn stiftendes Erleben, das ein Mensch in Sekundenbruchteilen emotional erspürt. Der amerikanische Architekturphilosoph Mark Wrigley beschreibt es so: „Atmosphäre beginnt offenbar dort, wo die Konstruktion endet. Sie umgibt ein Gebäude, sie haftet seiner Materie an. Tatsächlich scheint sie dem Objekt zu entströmen. Ursprünglich wurde damit die Gashülle bezeichnet, von der Himmelskörper umgeben sind. Ganz ähnlich scheint die Atmosphäre eines Bauwerkes durch dessen physische Form erzeugt zu werden. Sie ist gewissermassen eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit, ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte“.
Auf einen Stadtraum bezogen ist Atmosphäre eine Art Schwebezustand zwischen durchsichtiger Ordnung und vielfältigen Möglichkeiten physischer und psychischer Gegebenheiten; man könnte auch vom Flair eines Ortes sprechen, der starke Gefühle erzeugt. Atmosphäre aber macht nicht nur an formalen Dingen fest. Allerdings tragen stimmige Bauten, bei denen Ort, Form und Gebrauch aufeinander verweisen, sicher dazu bei.Wenn Sloterdijk aber vom „Primat der bergenden Atmosphäre“ spricht, so meint er vor allem das Gefühl, daß Architektur sich „um den Menschen kümmert“, daß ihm keine Einheitsgestaltung aufgezwungen wird, daß er sich auch sozial angenommen fühlt. In solcher Atmosphäre loggt sich das Interesse und die Neugier des Mensch an, und er faßt Fuß.
Für das Entstehen von Identität ist ganz zweifellos auch gute Architektur verantwortlich. Wenn es darum geht, benutzen Menschen häufig das Wort „schön“.Ohne auf die Abgedroschenheit des Begriffs „schön“ einzugehen und darauf, daß jeder etwas anderes darunter versteht, nur dies: Wenn ein Haus oder ein Raum „schön“ genannt werden, so ist damit nichts Eindeutiges gemeint, sondern ein Ineinandergreifen von Einzelelementen und ein Zusammenklang von Unterschiedlichem.
„Schön“ bezieht sich nicht nur auf Formen und Gestaltung, sondern auch auf ein Stück erlebter Freiheit dessen, der von „schön“ spricht. Das Schöne in der Architektur und die Güte eines Raumes sind nicht nur abhängig von Stilen, Techniken, Materialien, Inhalten und Nutzungen, sondern auch von Anschauungsreichtum und Denkfreiheit. Gute Räume sind geprägt von Sorgfalt und Vielfalt, sie lassen die Seele atmen und den Menschen sich wohl fühlen. Gebaute Heimat hat viel mit Freiheit und Spielraum in den unterschiedlichsten Facetten zu tun, und mit einer
Selbstverständlichkeit, der nichts krampfhaft Didaktisches anhaftet.
Gute Architektur, die Identität stiften kann, ist mit Sicherheit keine auffällige oder gar extravagante, sondern eher eine gelassene und undramatische Alltagsarchitektur. Eine gebaute Sensation mag als Ausnahme gut sein, aber nicht als Regel. Denn das Überzogene erschöpft sich schnell. Auch eine Stadt läßt sich nicht mit den Denkmalen bauherrlicher oder architektonischer Selbstdarstellung weiter bauen. Als Einzelbauwerke mögen sie inspirierend sein, in der Menge nicht. Gebraucht wird vielmehr eine alltagstaugliche Baukunst des qualitätvoll Normalen und des zurückhaltend Richtigen, die Menschen nicht nur bewundern, sondern verstehen und mit denen sie sich identifizieren können. Gute Räume sind wie gute Kleidung. Sie beengen nicht, sie erlauben dem Menschen die Freiheit der Bewegung, sie geben ihm Spielraum für die Auftritt, Rückzug und Konzentration.
Gute Architektur schöpft aus Bestand und Tradition, aber nicht ausschließlich. Nach Meinung Peter Zumthors wäre das eine platte Wiederholung ohne „das Aroma der Gegenwart“. Er beschreibt seine Auseinandersetzung so: „Ich begebe mich einerseits in einen Ort hinein, spüre ihm nach, und gleichzeitig blicke ich nach aussen. Es ist das dem Ort Fremde, das mir hilft, das dem Ort Eigentümliche zu sehen und danach zu bauen“.
aus: Polis 2/2013