Es gibt viele Gründe, dass auch sorgfältig geplante Bauten nicht realisiert werden; dem Bauherrn geht das Geld aus, die städtebaulichen Vorgaben ändern sich, ein Konkurrent hat plötzlich die besseren Karten oder Beziehungen und erhält den Auftrag. Jeder Architekt kennt diese Situation, aber sie ist immer aufs Neue ärgerlich.
Bei Wettbewerben akzeptieren Architekten, dass nicht alle gewinnen können und nur die wenigsten einen Preis oder Ankauf erhalten. Deren Entgelt deckt aber fast nie die Kosten der Arbeit, die die Entwerfer in ein Projekt hinein gesteckt haben. Dennoch gilt der Architektenwettbewerb, bei dem in der Vergangenheit die Zahl der Teilnehmer fast immer um ein Vielfaches höher war als die Zahl der Preise, nach wie vor als probates Mittel der Aquisition. Auch wenn inzwischen besondere Zulassungen längst nicht mehr alle, sondern nur noch ausgewählte Architekten die Teilnahme ermöglichen. Die Hoffnung darauf, einen ersten Preis zu erhalten, stirbt zuletzt.
Zwar ist sich die Architektenschaft über den volkswirtschaftlichen Wahnsinn der schieren Menge dieser unbezahlten Entwürfe – welcher andere Berufsstand erbringt sie noch? – einig, doch davon lassen wollen die wenigsten. Allerdings mehrt sich die Zahl derer, die es sich finanziell einfach nicht mehr leisten können, über Wochen und Monate Entwürfe zu erarbeiten, die dann für immer unbeachtet und vor allem ungebaut in irgendeiner Schublade oder im Papierkorb landen. Nicht viele Architekten haben ja die Qualität – und das Renommee – eines Mies van der Rohe, dessen ungebaute Vision eines transparenten Hochhauses in Berlin am Bahnhof Friedrichplatz alle paar Jahre neue Interessenten findet, die es vielleicht doch noch bauen möchten.
Die europäischen Länder – allen voran Deutschland – mit ihrer langen Tradition zahlreicher Wettbewerbe könnten jedes ein Museum ungebauter Projekte errichten. Ihr frischer Nachschub für alle Zukunft wäre gesichert und ihre Archive immer auf dem letzten Stand der gesellschaftlichen Diskussion von Architektur. Überhaupt wäre eine solches Museum eine eindrucksvolle Dokumentationsstätte. Denn in einer nicht realisierten Architektur spiegeln sich die „Wünsche, Ideen und Träume“ (Robert Kaltenbrunner) einer Gesellschaft nicht selten klarer als in der gebauten Wirklichkeit.
Der holländische Schriftsteller Cees Noteboom, ein begabter Flaneur mit seinem Faible für europäische Architektur und Städte, analysierte in seinem im Jahre 2ooo publizierten Buch „Nie gebaute Niederlande“ nicht nur, wie Holland hätte aussehen können, sondern auch das Paradox, warum das Nichtverwirklichte im Bauen so viel darüber aussagt, weshalb die Niederlande so aussehen, wie sie es tun.
Ungebautes ist für den Nutzer bzw. Bürger und den Architekten von ganz unterschiedlicher Bedeutung. Für den Nutzer ist das Unrealisierte nicht existent; er kennt die Entwürfe von Architekten meist nicht, und selbst wenn er sie vielleicht einmal in einer Bautenausstellung sieht, kann er sie wahrscheinlich als Pläne nur schwer lesen und vergisst sie schnell wieder. Für den Architekten dagegen, der seine Planung mit viel Zeit und Sorgfalt zu Papier oder in den Computer gebracht hat, macht ein unrealisierter Entwurf kaum einen Unterschied zum fertig gestellten Bau. Beides ist das Produkt seiner Phantasie und Begabung, seines Fleißes und seiner Sensibilität; beides trägt seine Handschrift bzw. spiegelt seine Einstellung zum Bauen wider. Und auch für seine weitere architektonische Entwicklung ist es im Grunde ohne große Bedeutung, ob sein Entwurf Idee geblieben oder Wirklichkeit geworden ist. Eben deshalb werden in von Architekten herausgegebenen Publikationen die unrealisierten Entwürfe auch mit der gleichen Sorgfalt aufbereitet wie die gebauten Häuser. Auch Bauhistoriker machen diesen Unterschied gewöhnlich nicht.
Es ist eine Binsenwahrheit, dass bei der Realisierung einer Planung die überzeugendsten Elemente eines Entwurfes nicht selten verloren gehen. Fast könnte man die These aufstellen, dass jeder noch nicht verwirklichte Bau möglicherweise besser als der fertig gestellte sei. Jeder kennt Beispiele von ausgezeichneten Wettbewerbsbeiträgen, die, endlich realisiert, nichts mehr von ihrer ursprünglich hoch gelobten Qualität und Faszination erkennen lassen. Fassungslos steht man nicht selten vor solchen Bauten, die kaum als Architektur bezeichnet werden können, und bezweifelt die Fähigkeiten der Juroren, die ein solches Projekt im Wettbewerb prämiert haben. Dabei hat nur die Wirklichkeit mit ihren Sachzwängen zugeschlagen.
Nicht umsonst gab und gibt es einige Architekten wie seinerzeit Leon Krier, die explizit verlauten lassen, dass sie nicht bauen wollen. Bauen – sprich Realisieren- würde ihre Entwürfe banalisieren und herabwürdigen. Freilich muß ein solcher Architekt eine andere Einnahmequelle zum Leben haben als die gebaute Umsetzung seiner Architektur. Aber nur wenige Glückskinder sind in einer solchen Situation.
Es ist denn aber auch die Frage, wer denn nun eigentlich ein guter Architekt ist; derjenige, der kühne Träume zu Papier bringt, aber am liebsten darauf verzichtet, sie zu realisieren, weil das zahlreiche Kompromisse einzugehen bedeuten würde. Oder derjenige, der als Gestalter das Schwarzbrot seines Berufes akzeptiert und mit Leidenschaft, Sorgfalt und leichter Hand die Begrenzungen im Bauen akzeptiert und zu Baukunst fügt.
Walter Gropius muß man eindeutig zu der zweiten Kategorie zählen. Er definierte architektonisches Gestalten als „in Fesseln tanzen“ und meinte damit, dass der Architekt bei aller Freiheit seines Tuns sich an den realen Gegebenheiten zu orientieren habe: an den administrativen Realitäten des Baugeschehens, an den praktischen Wünschen des Bauherrn, an den politischen Einschränkungen und an den finanziellen Möglichkeiten, um nur einige zu nennen.
Angesichts solcher Ausführungen mag mancher nach dem Sinn oder Un-sinn von Utopien fragen. Utopische bzw. Idealkonzepte in der Architektur und im
Städtebau vernachlässigen meist bewusst jegliche Realitätsbezüge; ihnen geht es nicht um einen Beitrag zur gebauten Wirklichkeit, sondern zur theoretischen Diskussion. Natürlich wurden auch solche Idealkonzepte realisiert, vor allem in der Renaissance, aber sie blieben die absolute Ausnahme. Und zwar weil sich nie oder selten die starke, reiche und mächtige Persönlichkeit fand, die sich für dergleichen Entwürfe stark machte und sie realisierte.
Auch manche Architekturrichtungen wie zum Beispiel der in der Sowjetunion vor dem 1.Weltkrieg entstandene Konstruktivismus mit seiner Tendenz zu einem radikalen Technizismus blieb sehr viel stärker eine Vision als er gebaute Wirklichkeit wurde. Die meisten der großen Entwürfe von Tatlin, Melnikow, Vesnin und El Lissitzky blieben ungebaut, weil einerseits das Geld zu ihrer Realisierung und ihnen andererseits auch die politische Überzeugungskraft zu einer Verwirklichung fehlte. Daß sie allerdings ungebaut blieben, nimmt den aufregenden Entwürfen nichts von ihrer Radikalität und ihrem Faszinosum. Bis heute.