Dies ist kein umfassender oder gar ein wissenschaftlicher Vortrag, sondern eine Art von Erfahrungsbericht und der Versuch, Europäern mit einer völlig anderen Lebensart und Denkweise Ayurveda zu erklären und es ein wenig von seinem Esoterikcharakter zu befreien.
Meine erste Kur in Sri Lanka liegt ca. 35 Jahre zurück. Hier in Europa kannte niemand überhaupt den Begriff, geschweige denn unternahm jemand aus gesundheitlichen Gründen einen Zehnstundenflug Richtung Asien, um dort seinen Bluthochdruck oder seinen Zucker behandeln zu lassen, zwei der Standardprobleme, die Ayurvedaärzte in drei Tagen ohne Chemie in den Griff bekommen. Man flog höchstens nach Indien zu einem Guru in einen Ashram oder zum Trekking nach Nepal. Ich stieß auf Ayurveda per Zufall während eines Ferienaufenthaltes und blieb dabei.
Mit der Sinnsuche in unserer Gesellschaft - die Okkultismusforscherin Sabine Doering-Manteufel von der Uni Regensburg spricht davon, daß in den letzten fünfundzwanzig Jahren sich die Weltbilder in einer "Art spiritueller Revolution" verändert haben wie in keiner Missionsphase der europäischen Geschichte zuvor - hat man sich auch des Ayurvedas bemächtigt. Die einen halten es für eine Wellnessmaßnahme, die anderen für eine Esoterikmaßnahme, wobei das griechische "esoterikos"ursprünglich das "Innere" heißt und ein Wissen meint, das nur einem inneren Zirkel vorbehalten ist.
Heute sind ca. 4o Prozent der deutschen Bevölkerung - die Zahl ist steigend - gegenüber Esoterik aufgeschlossen sind und bedienen sich daraus teilweise wie aus einem Supermarkt. Sie klauben sich Elemente aus unterschiedlichen Religionen und medizinischen bzw, philosophischen Bereichen zusammen und konstruieren daraus ein ihnen genehmes Weltbild. Das Interesse reicht vom harmlosen Aufspüren einer Wasserader bis zur Geistheilung und eben auch zu einer Ayurvedakur, wobei diese entsprechend der Ungeduld des Europäers eine Heilung dessen in 14 Tagen erbringen soll, was durch ein ganzes, falsch gelebtes Leben zu Krankheiten geführt hat.
Ayurveda - der Name setzt sich aus den Sanskritworten "ayur"= leben und "veda"= Wissen zusammen- bedeutet schlicht "Das Wissen vom Leben" bzw. "vom richtigen Leben", also der richtigen Lebensweise. Ayurveda hat mit Wellness nichts zu tun - ich habe Patienten drei oder vier Wochen nur heulend erlebt oder am Rande eines Nervenzusammenbruchs, wenn sie - von sich selbst unter Druck gesetzt - versuchten, schnelle Ergebnisse zu erzielen oder die Konfrontation mit sich selbst nicht aushielten.
Ayurveda hat auch mit Esoterik nichts zu tun - es ist eine alternative Medizin, allerdings äusserst komplex und entstanden in Zusammenhängen, die uns jenseitig dünken. Ihr eigentliches Ziel ist nicht die Heilung von Krankheiten, sondern Krankheit erst gar nicht entstehen zu lassen.
Ayurveda hat auch mit einem bestimmten Glauben oder einer Religion nichts zu tun. Sie existiert lange vor dem Buddhismus, ist von ihm aber als originärer Bestandteil buddhistischen Lebens und einer entsprechenden Lebensführung integriert worden - in Sri Lanka und früher auch in Indien, wo aber heute bekanntlich kaum noch Buddhisten vorhanden sind.
Yoga und Meditation sind auch keine zwingenden Bestandteile von Ayurveda, aber in den östlichen Gesellschaften und inzwischen auch bei uns an sich weit verbreitet und gehören deshalb vielfach zu einer Kur dazu.
Ayurveda ist in Sri Lanka als dem einzigen Land der Erde Volksmedizin. Das heißt, daß die meisten dort praktizierenden Ärzte aus dem Ayurveda kommen. Die entsprechende Ausbildung wird seit 1948, der Befreiung von den Engländern und der Unabhängigkeit , gefördert. Vorher war Ayurveda als sog. Aberglaube verboten.
Die Ausbildung eines Ayurvedaarztes in Sri Lanka und Indien braucht übrigens sechs Jahre im Vergleich zu fünf Jahren für den Abschluss eines westlichen Doktors.
Ayurveda geht ganzheitlich vor; Körper, Geist und Seele werden als symbolische Einheit gesehen, und alle Bereiche werden integriert, die unser physisches und psychisches Gleichgewicht stören bzw, wiederherstellen können, von der Ernährung bis zu Reinigungsmaßnahmen. Man könnte es auch anders ausdrücken und sagen, daß Ayurveda die Kunst ist, unser Leben mit der Natur in Einklang zu bringen. Danach geht Ayurveda nicht wie die Schulmedizin bei uns von einer symptombezogenen Einzeltherapie aus, sondern von einer sog.gesunden Lebensweise. "Was immer wir selbst für unsere Gesundheit tun können, wirkt besser als das, was andere für uns tun."
Ayurveda ist das älteste überlieferte Gesundheitssystem überhaupt. Manche behaupten, es sei bereits 5ooo Jahre alt, also um ca. 3ooo v.C.in Indien entstanden. Das ist schwer zu beweisen, denn die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen - es gibt drei Grundwerke - sind nur ca, 3ooo Jahre alt. Sie wurden auf Palmblätter geschrieben und wegen der schnellen Zerstörung dieses Materiales durch das heisse und feuchte Klima Indiens sowie durch Termiten immer wieder neu abgeschrieben und ergänzt. Insofern ist die Authentizität der ayurvedischen Regeln in ihrem Wortlaut sicher mit Vorsicht zu geniessen, aber nicht, was ihre Inhalte angeht. Sicher ist, daß ab 5oo v.C Werke existierten, die den Ägyptern, Griechen und den späteren Arabern bekannt waren. So baut Platos Gesundheitssystem ganz eindeutig auf Ayurveda auf.
Ayurveda reicht also zurück in Zeiten, in denen in fast allen Kulturen heilpraktizierende Ärzte gleichzeitig Priester waren. Denn alles fundierte Wissen hat im Tempel seinen Ort und seinen Ursprung, so wie bei uns die Klöster einmal Schulen und Zentren des Wissens waren. Diese Tatsache macht einige Menschen misstrauisch, während die Konstellation Religion und Heilkunst Ayurveda für andere überhaupt erst glaubhaft macht.
Wer das erste Mal von einem Ayurvedarzt untersucht wird, mag sich wundern, daß er oder sie beim Pulsmessen langsam den Arm bis zum Ellbogen hinaufgeht und lauscht. Laut Ayurveda gibt es nicht nur einen, sondern mehrere Pulse, die zu finden für einen Laien jedoch geradezu unmöglich ist. Entsprechend der Pulsdiagnose wird der Patient dann von dem Arzt typologisch eingeordnet und einem der sog.drei Doshas zugeordnet. Die Doshas sind dynamische Prinzipien und lassen sich entfernt mit den Konstitutionstypen der westlichen Medizin vergleichen, z.B.dem Pykniker oder dem Sanguiniker.
Die drei Doshas sind Vata, Pitta und Kapha. Aber jeder Mensch trägt alle drei Elemente in sich, nur in unterschiedlicher Menge. Ein Dosha jedoch überwiegt meist. Der Status der Gesundheit ist erreicht, wenn alle drei Doshas in Balance zueinander sind, d.h. in ihrem Verhältnis zueinander optimal ausgeglichen sind. Krankheit heißt, daß das Idealverhältnis der Doshas gestört ist. Und eine Ayurvedakur versucht, diese Balance wieder herzustellen.
Die folgende Beschreibung und Analyse der Doshas erlaubt Abweichungen und eine Variationsbreite:
Vata heißt übersetzt "Wind" und steht für das Bewegungsprinzip. Vatamenschen sind leicht gebaut, gelenkig, sie mögen feuchte Wärme, sie neigen zu Unruhe und Entschlußlosigkeitt, sie sind ideenreich mit einer Neigung zu musischen Berufen und haben eine schnelle Auffassungsgabe - diese eindeutige Klassifizierung erlaubt Variationen und Weiterungen.
Pitta bedeutet "Feuer". Pittamenschen sind schlank, muskulös, mit eichen Haaren, guten Gelenken und geschmeidiger Haut. Sie sind willensstark, ungeduldig bis intolerant und mit kritischem und systematischen Verstand begabt.
Kapha steht für Erde, Wasser und Phlegma. Kaphamenschen haben einen schweren Körperbau, zeigen Stärke und Ausdauer, haben große Augen, Zähne und Hände, sind schwer aus der Ruhe zu bringen, gehen Dinge methodisch an, sind beständig und planen langfristig.
In der Selbsteinschätzung ivon Europäern st Kapha die am wenigsten gesuchte Kategorie, weil wir Westler sie emotional interpretieren, was völlig falsch ist. Kapha gilt als schleimig, und das will sich niemand anziehen.
Laut Ayurveda ist Leben eine Einheit aus Körper, Verstand, Seele und Sinnen, und die Elemente, die diese Einheit regieren, sind Wasser, Erde, Feuer, Luft und Äther. Jedes Dosha wird von einem dieser Elemente dominiert, was über persönliche Eigenarten hinaus bis zu dem reicht, was uns schmeckt - scharf, süß,bitter, um nur einige Richtungen zu nennen.
Ebenso sind den Doshas körperliche Funktionen zugeordnet, bei Vata sind es Atmung, Kreislauf, Nerven und Ausscheidungen. Die von Pitta besonders dominierten Funktionen betreffen Verdauung, Stoffwechsel, Hunger und Durst, Sinneswahrnehmungen.Wenn Pieta erhöht ist, führt dies zu starkem Schwitzen, Gereiztheit, Verdauungsstörungen und Sodbrennen. Kapha dominiert den Kopf, den Nacken die Gelenke, den Magen. Erhöhtes Kapha heißt Übergewicht, Potenzstörungen, Lustlosigkeit.
Um Krankheiten zu bekämpfen, d.h.den Gleichklang der Doshas untereinander wieder herzustellen, gibt es die sog. Panchakarmakur. "Pancha "heißt 5, "karma" Behandlungen. Diesen Namen kennt man mittlerweile auch in Europa; man verbindet damit ölige Massagen, Stirngüsse und Erlebnisse, die das Wohlbefinden wie in einem luxuriösen Spa gewährleisten. Diese Vorstellung ist mehr als ungenau. Panchakarma ist die ausleitende Behandlung, die überschüssige Doshas aus dem Organismus entfernt. Massagen sind dabei nur ein Weg. Und die Behandlung kann alles andere als wohltuend sein. Die Ausweitung kann - im wahrsten Sinne des Wortes - an die Nieren gehen und einen völlig fertig machen, je nachdem wie schwer sie ist bzw. je nachdem, welche schwere Störung sie beseitigen soll.
Die drei Abfallstoffe des menschlichen Körpers - Urin, Schweiß und Fäkalien - und die Störungen, die sie ableiten, erfordern von jedem Patienten Disziplin und Energie. Ayurveda ist, wie schon einige Male deutlich gesagt, anstrengend bzw. kann es sein. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß man sich im Ayurveda vornehmlich des größten Organes des Menschen, nämlich der Haut, bedient. Bei uns im Westen wird Haut vorrangig kosmetisch gesehen, im Ayurveda ist Haut wie Nieren und Leber ein ausleitendes Organ, das ca. drei bis vier Stunden täglich bearbeitet wird, reagiert und entsprechend schlapp macht.
Um die toxischen Substanzen im Körper hinaus zu transportieren, gibt es drei Behandlungen
1. die Stärkung der Verdauungskraft agni
2. Ölbehandlungen der Haut, der Augen, der Nase.
Was unter diesem Punkt angeboten wird, entspricht den Vorstellungen des Westlers von Ayurveda: Synchronmassagen, wobei man von zwei Masseuren gleichzeitig bearbeitet wird, Shirodara, der Stirnguß mit heissem Öl, und Peeling.
Menschen, die an Kopfschmerzen leiden bzw. solche, bei denen die Ärzte eine Kopfbehandlung verschrieben bekommen, erhalten häufig einen Helm aus Bananenblättern auf den Kopf und dort hinein eine heisse oder kühlende Masse aus Avocadomus oder anderen Substanzen, die sie drei bis acht Stunden am Tag tragen müssen.
3.Wärmebehandlungen über heisse Bäder oder eine Sauna.
Den Therapeuten und Ärzten sind solche Patienten am liebsten, die nichts tun, die in der Ecke liegen und von den möglichst hohen Temperaturen und der hohen Feuchtigkeit ganz erledigt sind und ohne eigene Initiative. Das beste Klima für Ayurvedakuren sind deshalb die heissen und sehr feuchten Monate zwischen april und Oktober. Die Ärzte schätzen auch gar nicht die ständigen Fragen der Westler, die alles wissen wollen und alles hinterfragen.
Eine der persönlich erlebten und überzeugendsten Methoden, einen hyperaktiven Menschen ruhig zu stellen, habe ich an einer führenden grünen Politikerin erlebt. Sie lief morgens um sieben Uhr bereits durch den Park, holte nach dem Frühstück die Emails und Faxe ihres Büros an der Rezeption ab und telefonierte ständig. Die Ärzte haben sich das vier bis fünf Tage angeschaut und ihr dann - mit einer kleinen Lüge - eine
zweite Abführung verschrieben, wie sie jeder Patient am zweiten Tag erhält. Die erste hatte bei ihr nichts gebracht, die zweite war so stark, daß sie drei Tage das Bett hüten mußte. Danach hatte sie begriffen, daß Ruhe und Entspannung Voraussetzungen für einer erfolgreiche Kur sind und verzichtete auf "Arbeit".
Ayurveda kennt 5 verschiedene Reinigungsverfahren: Fasten, Erbrechen, Aderlass, Einläufe und Bäder. Erbrechen wird bei Europäern fast nie angewandt, Aderlass durch das Ansetzen von Blutegeln auch nicht.
Der Darm und sein einwandfreies Funktionieren ist eine der wichtigsten Maßnahmen im Ayurveda.
Die erste Reinigung zu Beginn einer Panchakarmakur ist das komplette Leeren und Säubern des Darms über 12 Stunden - durch Abführmittel oder Klistiere. Man kommt in dieser Zeit von der Toilette buchstäblich nicht herunter und ist nach Beendigung dieser Anwendung ziemlich fertig. Dabei darf nur warmes Wasser getrunken werden.
Eine zweite Reinigung erfolgt durch einen Einlauf mit Sesamöl.
Nach einigen Tagen ist die Reinigung der Kopfregion dran, Nase, Ohren, Augen, Stirnhöhlen werden mit Öl behandelt. Das klingt harmlos, kann aber schlimme Überraschungen bergen. Bei meiner ersten Nasenbehandlung in Indien gab der Arzt drei Tropfen in jedes meiner Nasenlöcher. Das schmerzte derart, als würde man mir ein spitzes Messer in die Nase stossen und es dann langsam umdrehen. Ich habe geschriehen, daß das ganze Resort zusammen lief. Die damals erlebte Panik führte dazu, daß ich die Nasenbehandlung fast fünfzehn Jahre abgelehnt habe.
Was man als Europäer leicht vergißt, ist die Tatsache, daß in der Natur die stärksten Gifte vorkommen und nicht alles, was Naturmedizin heißt, sanft daher kommt.
Der Patient erhält zur Unterstützung seiner Behandlung dreimal am Tag speziell für ihn hergestellte Medikamente. Als Tropfen, Pulver, Pillen oder kleinen schnapsähnlichen Getränken. Sie werden von dem Apotheker, über den jedes Resort verfügt, hergestellt bzw. gemixt. Früher waren diese Apotheker wahre Medizinmänner, die ihre Kräuter bei Nacht brachen und dann frisch verarbeiteten. Diese Zeiten sind vorbei, man kauft en gros ein und mischt die individuelle Medizin nur noch teilweise zurecht.
Ayurvedische Medikamente sind nichts für zarte Gemüter. Sie schmecken und riechen nicht selten grauenvoll und enthalten tierische , pflanzliche und andere Bestandteile. Es fehlt ihnen jedes Coating aus einem neutralen Stoff, so daß man sie wie in Europa gut schlucken kann, wie wir das von Medikamenten gewohnt sind. Nicht selten verursachen die Medikamente einen starken Brechreiz.
Dasselbe gilt für die bei den Massagen verwendeten Öle. Sie sind dickflüssig und ohne ätherische Substanzen hergestellt. Nach drei Wochen riecht alles, hängt einem zur Nase heraus und und man hält den Gestank kaum noch aus.
Eine mehrwöchige Ayurvedakur ist das größte Geschenk an das eigene Wohlbefinden. Allerdings stellt sich dieses nicht schon immer während oder kurz nach der Kur ein. Meist merkt man den Erfolg erst Wochen nach Heimkehr.
Rauchen und Alkohol während der Kur sind verboten. Fleisch und Fisch aber sind in Maßen erlaubt. Das Essen ist wie die Medizin auf den Einzelnen zugeschnitten. Und es ist herrlich, von der Blättersuppe zum Frühstück bis zu den Curries bei den anderen Mahlzeiten. Hungern steht nicht auf dem Speiseplan.
Viele Patienten fühlen sich während der Kur nervös und angespannt bis deprimiert. Der Europäer beobachtet sich während der Kur sehr genau in seinen Reaktionen, sucht nach Veränderungen und kleinsten Regungen, unterdrückte Gefühle und Probleme spülen nach oben - eine Reaktion, mit der nicht alle Menschen gut umgehen können; Männer noch weniger als Frauen, mit der Konsequenz, daß die meisten Teilnehmer an einer Kur weiblich sind.
Man sollte wenigstens versuchen, für die Dauer einer Kur Frieden mit sich selbst zu schließen - die beste Grundlage von Heilung.
Was ich über Ayurveda gesagt habe, hat in den letzten zehn Jahren in Indien und Sri Lanka viel von seiner Authentizität verloren. Es ist unter die touristischen Räder gekommen. Insofern sind Sorgfalt der Auswahl eines Resorts und guter Rat Vorbedingung für jede Kur.
Vortrag gehalten am 17.2.2013