Mein einer Großvater war Engländer und zog sich täglich am späten Nachmittag in seinen Londoner Club zurück. Nicht etwa, um mit anderen Mitgliedern zu debattieren, nein, er saß allein in einem altmodischen Lehnstuhl in der Ecke und las Zeitung. Manchmal machte er ein Nickerchen, trank auch schon einmal einen Whiskey und war pünktlich und erholt zum Abendessen um 8 p.m.zu Hause.
Mein anderer Großvater war ein westfälischer Bauer und saß nach getaner Arbeit jahrein und jahraus, wenn es nicht regnete, auf dem Rasen unter einem alten Apfelbaum in seinem Garten. Er dengelte seine Sensen, säuberte und schliff seine Messer und reparierte sein Handwerkszeug. Dabei trank er mit schöner Regelmässigkeit einen halben Liter klaren Korn.
Beide Großväter hielten über Jahre an ihrer Gewohnheit fest, ihren Lieblingsplatz täglich aufzusuchen. Nur wenige Menschen oder Ereignisse konnten sie davon abbringen. Für beide gehörte ihr besonderer Ort zu ihrem Alltag, hier fühlten sie sich wohl, hier waren sie ungestört, und man ließ sie in Ruhe. Hier ordnete sich ihr Leben und seine täglichen Schwierigkeiten und Probleme immer wieder fast von allein. Denn große Denker, Nachdenker, waren beide nicht, nur große Schweiger. Die Stille ihres Rückzugsortes, wo man nichts von ihnen wollte, gab beiden die Kraft, ihren Alltag immer wieder neu mit frischer Kraft zu beginnen.
Sicher waren sowohl der Club als auch der Platz unter dem Apfelbaum Alltagsoasen und ihr Aufsuchen ein Alltagsritual. Sie waren ein Teil des normalen Lebens, nichts Besonderes; man mußte nicht weit fahren, um beide zu erreichen. Man mußte nichts planen oder organisieren, um dort zu sein oder dorthin zu gelangen. Und - ganz wichtig - jeder in der Familie akzeptierte stillschweigend diese Rückzugsorte. Die Großväter mußten nicht erklären oder gar verteidigen. Ihr Tun und die beiden Orte wurden ihnen selbstverständlich abgenommen.
Männern werden solche Alltagsoasen historisch länger als Frauen zugebilligt: ein Lesezimmer, ein Billardraum, ein Hobbykeller, eine Garage, wo Mann an Autos oder Motorrädern herumbastelt. Der Mann hat und hatte viele Rückzugsorte. Für die Frau mußte Virginia Wolf um 1920 mit ihrem Buch "A Room of One\'s Own" erst eine Lanze brechen.
Alltagsoasen sind unterschiedlich je nach dem Alter ihrer Nutzer. Ein junger Mensch oast oder "hängt" anders und anderswo ab als ein älterer. Das Kind zieht sich in sein Baumhaus zurück, um allein zu sein; der Jugendliche trifft sich regelmässig mit Freunden an einer Häuserecke, die nichts Besonderes hat; er sitzt zusammen mit ihnen auf einer Mauer oder auch manchmal auf dem Bordstein.
Alltagsoasen sind unspektakulär und können überall sein. Die häufigste Alltagsoase dürfte das eigene Zimmer sein, mit dem Schlüssel zum Umdrehen, damit man auch ganz ungestört ist. Für die ganze Familie ist nicht selten der Schrebergarten ein grüner Rückzugsort, wo jeder ungestört seinen Neigungen nachgehen kann, vom Blumenpflanzen bis zum faul in der Sonne liegen.
Alltagsoasen findet man vorrangig im privaten, selten im öffentlichen Raum. Aber auch dort gibt es sie, abseits gelegene, geschützte Bereiche, meist ungenutzte Restflächen, wo man unbeachtet ist, wo es still ist, und man sich ungestört fühlt. Und wo eventuell eine Bank zum Ausruhen steht.
Leider aber werden solche ruhigen Abseitsorte nicht selten von Pennern frequentiert: sie sind gewöhnlich verdreckt, und etwaige Bänke läßt die Stadt abmontieren, um ihre Besetzer zu vertreiben. Aber natürlich haben auch Penner und Obdachlose das Recht auf eine "Oase".
Offene Kirchen sind wunderbare Alltagsoasen. In Köln lädt seit Jahrzehnten mitten in der Schildergasse, einer der frequentiertest Shoppingmeilen der Stadt, eine kleine Kapelle mit Barlachs schönem fliegenden Engel im Innenraum die gehetzten Menschen ein zu einigen Minuten der Ruhe und Besinnung. Nicht wenige folgen dieser Aufforderung, und die kleine Kirche ist selten leer.
Auch alte Friedhöfe können Alltagsoasen sein. Dort herrscht Stille, es gibt wunderschöne Winkel, in denen Bänke stehen. Die Wege sind gepflegt, und viele Ältere verbringen hier viel Zeit. Kinder sieht man hier nicht oft, unsere hektische Zeit entlässt sie selten in diese Oasen.
Eines ist sicher: eine Alltagsoase braucht jeder, wie immer sie aussieht.
Zum Ankommen, zum Sichzuhausefühlen, zur Erholung und zum abspannen.
Nur mit Architektur oder gar guter Architektur hat sie in den seltensten Fällen etwas zu tun.