Nun ist sie also Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi, eine Juristin, 37 Jahre alt, aus der Grillo Bewegung. Sie hat sich die Veränderung und Säuberung Roms vorgenommen, vor allem die physische. „Schluß mit der Trockenreinigung. Sie würde Strassen und Plätze der Ewigen Stadt mit Wasser putzen. Tag für Tag“ (Die Zeit 2.6.16). Daß dieses Ziel das vorrangigste für Rom ist, darf bezweifelt werden. Ein Versuch, Korruption und Vetternwirtschaft nicht nur der Mafia anzugehen, wäre ungleich wichtiger. Es ist allerdings auch entschieden schwieriger.
Sicher sind überquellende Papierkörbe ein Problem, aber viel kritischer ist der Zustand der römischen Strassen. Löcher im Asphalt und lockeres Pflaster führen bei Fußgängern häufig zu umgeknickten Füssen oder gar gebrochenen Beinen. Doch solche Missstände findet man auch in anderen grossen Städten und Ländern der EU. Auf einwandfreien Straßen geht und fährt man nur in Irland und im Baltikum. Subventionen aus Brüssel machten es möglich.
Neben unzähligen Problemen, die Rom hat, droht auch der Tourismus, eines zu werden. Die Stadt erstickt an zu vielen Besuchern, Die Hauptattraktionen sind völlig überlaufen, sie machen, überfüllt wie sie sind, keinen Spaß mehr. Wer wartet bei vier Tagen in Rom denn schon gern fünf Stunden und länger in einer Schlange, um in ein Museum zu gelangen.
Seit viele der Länder um das Mittelmeer herum von Kriegen und Terror heimgesucht werden, sind die Ziele für Städte- und Erholungstouristen in dieser Region drastisch geschrumpft. Wo selbst bisherige Anziehungspunkte wie Istanbul wegen neuerlicher Terrorakte gemieden werden, platzen Städte wie Rom, Madrid und Barcelona wegen zunehmenden Besuchermassen auseinander. Nicht nur Touristen haben darauf wenig Lust; vor allem die Bewohner dieser Städte haben zunehmend das Gefühl, daß ihnen ihre Stadt nicht mehr gehört und sie über die Hälfte des Jahres vor Touristen auf der Flucht sein müssen.
In Barcelona haben sich Menschen zu Bürgerinitiativen zusammen geschlossen, um gegen das Zuviel an Besuchern zu protestieren. Doch wie macht man das erfolgreich? Schließlich kann man keine Schilder am Stadtrand aufstellen mit der Inschrift „Stadt wegen Überfüllung geschlossen“ und hoffen, daß das wirkt. Frau Raggi wird sich also etwas einfallen lassen müssen.
Die eigentlichen Reisemonate für Rom, nämlich April bis Oktober, kommen für enthusiastische Wiederholungsbesucher häufig nicht mehr infrage. Sie überlassen die Stadt deshalb zunehmend dem Massentourismus mit seinen lanzenartigen Stangen, auf denen vorn Fotoapparate oder Smartphones für die berühmten Selfies aus jeder möglichen Perspektive sitzen. An manchen Attraktionspunkten kann man sich wegen dieses Gerätes kaum noch bewegen und wähnt sich von Waffen umstellt wie im Krieg.
Von Venedig, dem Urerlebnis einer seit Jahren überfüllten Stadt, haben viele Individualtouristen gelernt; sie fahren nur noch von November bis Februar dorthin. Die Schreiberin dieser Zeilen macht das genauso. Zwar ist die Stadt mit dicker Jacke, Regenschirm und Gummistiefeln für das im Winter häufige Hochwasser sehr viel ungemütlicher als bei Sonnenschein, aber sie entwickelt dann eine melancholische und pittoreske Schönheit, die durchaus reizvoll selbst bei Nebel ist.
Für Rom habe ich dasselbe beschlossen. Nie mehr im Sommer. Als ich nach 12 Tagen Rom vor Pfingsten nach Hause zurückkehrte, war ich von der Masse Menschen dort und dem unerträglichen Lärm der Stadt so erschlagen, daß ich Tage brauchte, um mich zu erholen. Ferdinand Ranft, ehemaliger Zeitredakteur, hatte Recht, als er einmal schrieb:“ Mit Rom wird man nie fertig. Es macht einen fertig“.
Freunde, die noch immer von „der Leichtigkeit Roms“ schwärmen, von der „Eleganz der Römerinnen“ und der „Lässigkeit ihrer gut gekleideten Männer“ fahren seit Jahren nur noch im Januar in die Ewige Stadt. Ich jedenfalls habe bei meinen Besuchen der letzten Jahre im Sommer von diesen wundersamen Erscheinungen nichts mehr vorgefunden.
Eines der dringendsten Probleme von Frau Raggi dürfte auch die generelle Verkehrssituation Roms sein. Das gilt für den rollenden wie für den parkenden Verkehr. Morgens bis 9 Uhr, mittags zwischen 12 und 14 Uhr und spätnachmittags bis 21 Uhr steht der Verkehr weitgehend still; nichts geht mehr. Fußgänger ersticken fast an den Abgasen. Manche Strassen sind wegen der Fülle parkender Autos, die Stoßstange an Stoßstande stehen, nicht mehr zu überqueren, vor allem nicht für ältere Menschen oder junge Mütter mit Kinderwagen. In anderen Straßen, in denen nur Motorräder parken, fühlt man sich wie auf einem Raumbahnhof im Ruhezustand. Die meist schwarzen, windschnittigen Schlitten wirken höchst bedrohlich und scheinen auf Aliens zu warten.
Wer in Rom nicht gut zu Fuß ist, ist aufgeschmissen. Busse fahren nur unregelmässig und stehen dann ebenfalls im Dauerstau. Die seit neuestem zu mietenden Fahrräder mischen sich häufig mutwillig unter die Fußgängermassen auf den Bürgersteigen und gefährden diese und sich selbst. Die U-Bahn dagegen ist meist effektiv, schnell und nur in Spitzenzeiten wirklich voll. Allerdings sieht man unter der Erde nichts von der Ewigen Stadt.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Rom war ich- eine Todsünde für eine Baugeschichtlerin, weder im Petersdom noch in den vatikanischen Museum. Dort hatte ich ursprünglich einige Vormittage verbringen wollen. Die endlosen Menschenschlangen haben mich abgehalten, auch wenn der Preis ein Verzicht auf Michelangelos wunderbare Sixtinische Kapelle bedeutete, die ich aber natürlich kenne. Im Pantheon bin ich nur bis zur Tür gekommen und habe dann auf dem Absatz kehrt gemacht. Der wunderbare Raum war so voll mi Menschen, die, Schulter an Schulter, sich wie ein Strudel um die riesige Öffnung im Dach, das Opaion, drehten. Der schiere Anblick reichte mir. Im Museum der Ara Pacis, diesem schönen weissen Bau von Richard Meier für den Friedensaltar des Augustus, war ich dagegen fast allein. Der Eintritt war teuer - auch für Senioren übrigens, seit Italien vor zwei Jahren den kostenlosen Besuch aller Denkmäler für Ältere gestrichen hat. Kommt hinzu, daß die Ära Pacis ein politisches und intellektuelles Denkmal ist, das bar jeder massenhaften Attraktion wie das Kolosseum ist und deshalb wenige Menschen anzieht. Das Museum ist so etwas wie eine ruhige Insel, auf dessen einladenden Treppenstufen man durchschnaufen und zur Ruhe kommen kann, bevor man sich in die nächste Besichtigungsschlacht stürzt.
Die Ara Pacis ist einer der wenigen modernen Bauten Roms, ein weiterer ist das Kunstmuseum von Zaha Hadid, das aber weitaus spektakulärer ist. Es liegt ein Stück weit weg vom Zentrum in einem ehemaligen Industriegebiet und ist weit besser als sein Ruf.Das Innere, das nur ein aussergewöhnlich begabter Direktor bespielen kann, ist eine Serie von aufregenden Räumen auf verschiedenen Ebenen, die durch Brücken miteinander verbunden sind. Der Raumeindruck ist umwertend, allerdings sollten Besucher schwindelfrei sei. Herausragend der ebenfalls von Zaha Hadid gestaltete öffentliche Museumsplatz, der täglich kurz nach Öffnung des Hauses von der Nachbarschaft besetzt wird, von Müttern mit Kindern, Fußball spielenden Jungen, Rollschuh fahrenden Mädchen und Schach spielenden Vätern. Dem Platz gelingt das Kunststück, die neue Freizeitmitte eines ansonsten eher unscheinbaren Viertels zu werden; man hat der Architektin dieses geschickte, städtebauliche Händchen nicht zugetraut.
Wo findet man in Rom Ruhe, und was kann man besuchen, wenn die bekannten Denkmäler, zu denen auch das Kolosseum und die Kaiserforen gehören, massenbesetzt sind? Das Kapitolinische Museum ist nie überlaufen, der Campo Santo Teutonico im Vatikan, der Deutsche Friedhof, ist immer noch ein Geheimtipp. Auch die ausgedehnten Caracallathermen eignen sich für einige entspannte Stunden. Sonntags ist die Gräberstraße, die Via Appia, für den Verkehr gesperrt und eine ruhige Flaniermeile. Zu empfehlen, weil nur wenigen bekannt, ist auch die Centrale Montemarzini, ein leerstehendes Industriedenkmal, in dem während der Restaurierung des Kapitols 400 antike Skulpturen eine provisorische Heimat fanden. Was als Übergangslösung gedacht war, ist ein attraktiver Ausstellungsort geworden, der vom Gegensatz aus alten Maschinen und weissen Statuen lebt. Auch San Paolo Fuori le Mura, die riesige Kirche mit den wunderbaren goldgrundigen Apsismosaiken, ist einen Besuch wert. Sie steht an der Stelle, wo angeblich Paulus enthauptet wurde.
Am schönsten allerdings zu entdecken sind die zahlreichen kleinen Kirchen von Bramante und Borromini, für die man bei einem kurzen Romaufenthalt fast nie Zeit hat. Zwei seien erwähnt.
San Carlo alle Quatre Fontane von Borromini ist "klein in den Ausmassen, aber groß als Kunstwerk, ein Juwel", schreibt der ADAC Führer und hat Recht. Selten sieht man so viel "beseelte Geometrie", deren schwingende Linien geschickt den winzigen Bauplatz an einer Strassenecke ausnutzen. Der kleine Tempietto von Bramante in San Pietro in Montorio ist schwer zu finden, da er im Inneren von Kloster und spanischer Kunstakademie liegt. Das Tempelchen gilt als erster Kirchenbau der Renaissance und zeigt wie an einem Modell alle Elemente der neuen Architektur exemplarisch auf.
Eine der schönsten, nahezu unbekannten Kirchen ist die strenge, aus dem 4.Jahrhundert stammende Santa Constanza. Sie war zunächst Grabkirche für die beiden Töchter Kaiser Konstantins und wurde erst im 12.Jahrhundert als Kirche geweiht. In der wunderbaren Stille des kreisrunden Baus findet man zu der Gelassenheit zurück, die einem im überfüllten Rom ständig verloren geht.