Die Ausstellung trägt den Titel „Wach bleiben“. Dieser weckte meine Aufmerksamkeit, weil ich dahinter Politisches vermutete. Aber diese Vorstellung verschwand, als ich las, dass der Titel die Bezeichnung einer Schau der österreichischen Malerin Maria Lassnig verbarg.
Ich hatte weder den Namen der Künstlerin je gehört noch kannte ich ihr Oeuvre. Deshalb wird dies auch keine Kunstkritik – die traue ich mir nicht zu - sondern ein Artikel über das Erlebnis der Ausstellung einer mir Unbekannten, die mich aber ungemein beeindruckt hat.
„Wach bleiben“, diese Aufforderung gilt den Besuchern, beschreibt aber auch das Werk der Künstlerin. Ihre schonungslose Selbstdarstellung ist verstörend und rüttelt den Betrachter auf. So brutal konfrontieren wenige Künstler den Betrachter mit der Selbstsicht ihrer Person als einer zerrissenen und schmerzvollen Existenz. Nicht zufällig greift Maria Lassnig häufig ein Motiv des norwegischen Malers Edvard Munch auf, den schreckensvoll geöffneten Mund, der in einem stummen Schrei einen extremen inneren Schockzustand verrät.
Auf den Fotos mit der Künstlerin am Eingang zur Ausstellung erscheint Lassnig als normaler und freundlicher Mensch. Auf ihren Gemälden aber zeigt sie sich als eine zerquälte Frau, die ihren Körper in zerstückelten Fleischklumpen zur Schau stellt. In ihren extremsten Bildern erinnert sie an Francis Bacon und die Kadaver, zu denen er den menschlichen Körper deformiert. Fast jedes Bild ist eine ätzende Selbstanalyse.
Lassnig will nicht schön wirken, sondern mutig zeigen, wie sie sich sieht, als leidvolle Kreatur. „ich trete gleichsam nackt vor die Leinwand, ohne Absicht, ohne Planung, ohne Modell, ohne Fotografie, und lasse entstehen. Doch habe ich einen Ausgangspunkt, der aus der Erkenntnis entstand, dass das einzig Reale meine Gefühle sind, die sich innerhalb des Körpergehäuses abspielen…“
Diese Körperbewusstseinsbilder „gehen unter die Haut“ (Thomas Kliemann) und zeigen „ein großes, nach außen gestülptes Stück Kreatur“, in trüben Farben, einem bläulichen, toten Weiß, schmutzigem Grün und einem unangenehmen Rosa. Die „Drei Grazien“ in ihrer grotesken Haltung und in müden bleichen Färben erinnern deshalb auch eher an eine Kreuzigung Christi mit seinen zwei Gefährten am Kreuz als an die graziösen Töchter des Zeus, die den Menschen Anmut und Schönheit bringen.
Lassnigs mutige und markante Persönlichkeit scheut weder Entblößung noch Verbergen. Ihr Selbstbildnis unter Plastik zeigt eine alternde Frau unter Plastikplanen, die um ihren Kopf g gewickelt sind. Man weiß nicht, ob sie das Ersticken sucht oder sie vom Material fasziniert ist, das sie gleichzeitig versteckt und wie eine Braut zeigt.
Vielleicht nicht das extremste, aber doch provokanteste und eindringlichste Bild der Ausstellung heißt „Du oder Ich?“ Die Künstlerin liegt nackt auf dem Rücken, die Beine gespreizt, in der einen Hand eine Pistole, die auf den Betrachter zielt, die Pistole in der Linken legt auf ihren eigenen Kopf an. Eine angespannte Situation, die jeden Moment explodieren kann, deren Ausgang ungewiss und in der Schwebe bleibt. Deshalb wach bleiben!
Die Ausstellung ist einzigartig, nicht zuletzt weil Lassnigs Malerei so beeindruckend ist. Immerhin ist sie weit jenseits der 70 Jahre, als ihre besten Bilder entstehen. Außerdem sagte der österreichische Maler Arnulf Rainer einmal über sie: „Lassnig ist die einzige Frau, die in der Kunst etwas macht, was nicht schon vorher ein Mann gemacht hat.“