Ein grosser Mensch ist gestorben

Zum Tode des Architekten Gottfried Böhm

Gottfried Böhm starb im Alter von 101 Jahren. Die Feuilletons der Zeitungen sind voll mit Nachrufen, die dem grossen alten Mann der deutschen Architektur aber nur teilweise gerecht werden. Nicht zuletzt auch wohl deswegen, weil sein Werk so reich und umfänglich war, daß ein kurzer Artikel es nur unzulänglich beschreiben kann.
Ich habe Gottfried Böhm als Architekten und als Mensch vom Augenblick an verehrt, als ich Anfang der 70iger Jahre zur Architektur kam. Und ich fand es den Höhepunkt meines beruflichen Lebens, als es mir gelang, die Familie Böhm davon zu überzeugen, daß sie das Oeuvre Böhms dem Deutschen Architektur Museum DAM übergeben möge.
Statt eines Nachrufes greife ich zur Erinnerung  an Gottfried Böhm auf einen leicht veränderten Aufsatz aus dem Katalog der Böhmausstellung des DAM aus dem Jahre 2006 zurück. Ich versuche darin, die Rolle des Lichts bei Böhm zu analysieren  Das Licht gehört zu den Themen, die in seinem Werk meiner Meinung nach eine große Rolle spielen, aber viel zu wenig beachtet und behandelt wurden.

Die Rolle des Lichts im Oeuvre Gottfried Böhms

Die Bewunderung für Gottfried Böhms raumbildende Architektur ist groß, auf Seiten der Architekten, der Historiker und Kritiker. Sie ist einhellig, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten. So schreibt Günter Behnisch, der sich auf dem Höhepunkt seines Schaffens gleichermassen als Architekt und Vertreter der schwachen Kräfte der Architektur verstand: „Gottfried Böhm muß seine schönen Bauten unter anderen Bedingungen geschaffen haben. In einer Konstellation, die es nicht verhinderte, daß viele, vor allem andere Kräfte als die der organisierten Macht zu Worte kamen. Andere Kräfte, d. h. schwächere Kräfte, individuellere Kräfte, Kräfte, die zurückhaltend sind, die einfach da sind, ohne sich vorzudrängen. Kräfte ohne Macht, die darauf warten, aufgenommen zu werden. Nur so kann ich mir die Vielfalt seiner Gestalten erklären, die Tatsache, daß sie auch immer wieder neu, immer wieder anders gesehen und gedeutet werden können. Gottfried Böhm muß diese Vielfalt gesehen, erfasst und meditativ ihr Wesen durchdrungen, assimiliert, geordnet und individuell, mit grossem Können zur architektonischen Gestalt geführt haben.“

Manfred Sack, ein Bewunderer Böhms, resümiert die Eigenwilligkeit und das Anderssein der Architektur Böhms dagegen so:
„Er hat immer anders als andere gebaut, sich an keine Richtung angehängt, sondern immer seinen eigenen, ganz persönlichen Stil ertastet und, wenn es die Umstände nahelegten, korrigiert, ein selbständiger Erbe des Expressionismus. Es gibt nicht viele Architekten, die so plastisch gebaut haben, es gibt nur wenige, die ihre Entwürfe so empfindsam, dabei so kontrastreich anzulegen vermögen, und es gibt keinen, der so beständig, so eigenwillige, so überraschende, allgemeinen Usancen widersprechende Bauwerke hervorbrachte wie er.“
Zwei Zitate aus einer Fülle von Äußerungen, die von der expressiven Kraft Böhmscher Kirchen bis zur Materialität seiner Bauten allen Einzelheiten seines Werkes nachgehen. Allerdings beschäftigt sich keine der zahlreichen Äußerungen explizit mit der Frage des Lichtes in seinem Werk. Auch für Wolfgang Pehnt ist dieser Aspekt in seinen grundlegenden Aufsätzen zu Böhm kein Thema… Und gerade Pehnt ist es, der in seiner allgemeinen Einschätzung der Architektur Böhms davon spricht, dass sie das „ganze menschliche Sensorium berührt“. Er fährt fort:“ Die Flächen wollen erfühlt werden, die Räume und Raumfolgen mit den Sinnesorganen für Gravitationen, Motorik und Temperatur erfaßt werden“. Kein Wort über das Licht, das stärker als jedes andere Element im Bauen Auskunft über die Sinnlichkeit der Architektur gibt. Wahrscheinlich hat Gerd Auer…immer noch Recht, wenn er bemängelt, dass Lichtqualitäten in den Architekurkritiken der Feuilletons keine Rolle spielen und dass selbst  Architekten trotz ihrer prinzipiellen Wertschätzung des Baustoffes Licht ein eher defizitäres Lichtbewußtsein haben… Sie sollten der Einsicht Tadao Andos folgen, der sagt:“ Das Schaffen von Raum in der Architektur ist nichts anderes als die Verdichtung und Läuterung von Licht.“

Ein klares architektonisches Konzept bedeutet immer eine sorgfältige Herausarbeitung des intensiven Dialoges zwischen einem Bau und dessen Licht und Schatten… Doch das haben die wenigsten Architekten beim Entwurf klar vor Augen. Die erwünschte Lichtatmosphäre ist den meisten beim Entwurf zwar bewußt, aber das konkrete Ergebnis ist dann Überraschung und Zufall.. Svetozar Raev, ein enger Vertrauter Böhms, nennt das Ergebnis sogar „ein Risiko“.

Er schreibt: "Das Licht steht am Anfang aller optischen Wahrnehmungen. Objektive Faktoren wie Tageszeit, Wetter, Klima, Jahreszeit produzieren Lichtverhältnisse von unterschiedlicher Intensität und Qualität, die das Erscheinungsbild der Bauten beeinflussen. Die Handhabung dieses Phänomens ist das letzte und subtile Werkzeug des Architekten, mit dem er die Grundstimmung seines Werkes verstärken, abschwächen, sogar verstellen kann. Mit so einem Risiko muß jeder Architekt rechnen, besonders wenn es sich um die Schaffung von anspruchsvollen Bauten handelt“. Ein solches Risiko sei Böhm mit dem Bau in Nerviges eingegangen…

Betrachtet man Gottfried Böhms Umgang mit Licht aus der Sicht von von Gerhard  Auers Definition der vier Temperamente des Lichtentwurfs, dann kommt man zu der Schlussfolgerung, dass es in Gottfried Böhms Bauten zwar eine emotionale Entsprechung von Architektur, Licht und Gefühl gibt und daß gerade in seinen Kirchen das Licht hilft, die Plastizität der Baukörper vor allem von Innenräumen zu verstärken, allerdings ohne eine durchgehende Handschrift und Konzeption in Sachen Licht. Seine Lichtlösungen variieren von Bau zu Bau, das Tageslicht ist ihm dabei um vieles wichtiger als das Kunstlicht, aber er hängt weder gestalterisch noch im Material  einer bestimmten Richtung des Lichtentwurfs an, wie sie Auer für Louis Khan, Le Corbusier, Jean Nouvel und Frank Lloyd Wright definiert.

Mit Le Corbusier teilt Böhm dessen Fähigkeit, Innenräume durch Tageslicht zu dramatisieren. Dennoch kann man bei Böhm nicht von einem „rationalen Licht“ wie bei Corbusier sprechen, ausser vielleicht in den 70iger Jahren, als Böhm transparente Bauten schuf, deren Glasfülle sie zu Sonnenuhren des Tageslichts machte. Le Corbusier sah in diesem „rationalen Licht“ nicht nur ein Mittel zur Erhellung, sondern auch zur Enthüllung. Er liebte die scharfen Konturen geometrischer Körper und die Entschiedenheit primärer Farben. „Rationales Licht“ erregt den Geist, läßt aber das Herz kühl, weil es hell ist und keine Zwischentöne kennt. Es ist das Licht der Aufklärung und der Moderne. Doch das Zwielicht, das in einigen Kirchen Böhms nistet und viele seiner Räume in eine fast magische Dunkelheit taucht, hat mit rationalem Licht nichts zu tun. Es ist am ehesten dem „vitalischen Licht“ zuzuordnen, das Auer als Kennzeichen Frank Lloyd Wrigths ausgemacht hat.

Wright liebte Farbnuancen und Modulationen. Auer nennt ihn einen „Materialfetischisten“ der keine Chance ungenützt läßt, „ die Oberflächen von Natursteinen, Ziegeln, Hölzern und Metallen, rau, geglättet, poliert,  dem Licht zur Reflexion anzubieten. Kaum ein Schleier-, Spiegel- oder Diffusionseffekt ist ausgelassen, das Naturlicht zu aktivieren.“ Schönheit ist Fülle bei Wright, was sicher auch für Böhm gilt, wenngleich sich dieser mit weniger Materialeinsatz zufrieden gibt. Zwar ist Böhm die Oberflächenstruktur des rau belassenen Betons wichtig, bei dem jeder Kiesel das Sonnenlicht bricht und reflektiert, doch wird man ihn keinen Materialfetischisten nennen können.

Gottfried Böhm mag seine Bauten reich, er will, dass sie „den Augen etwas erzählen“. Dies erreicht er durch Materialvielfalt und durch Licht, das durch das strahlende Rot vieler seiner Kirchenfenster, dass die Innenräume weich ausleuchtet. Die Fenster der katholischen Pfarrkirche Christi Auferstehung in Köln Melassen inszenieren ein dunkles Blutrot, um den schönen Innenraum, der an die Kirchen des Schweizer Architekten Walter Förderer erinnert, warm zu beleben. Die Wände aus Lochwerkziegeln, die der besseren Akustik dienen und wie grosse Lochstickereien wirken, schlucken das ohnehin spärliche Tageslicht, das durch wenige hohe und schmale Fenster einsickert, und schwärzen den Raum je nach dem Stand des Lichts. Mit Wright teilt Böhm die Abneigung gegen die Askese weisser Geometrie und transparenter Gerippe in der Architektur. „Das fatalistische Licht“, so Auer, will „die Materie beleben. Es schöpft Vielfalt aus Dämmerungen, macht sich Unschärfen zunutze, Es erregt eher unser Gemüt als unseren Geist, es vertraut spontaner Sinneswahrnehmung mehr als dem Intellekt. Den archaischen Mythen und Riten hat es immer schon gedient, es ist das Licht der Romantik und des Jugendstils“.

Mit dem „listenreichen Licht“ Jean Nouvels hat Gottfried Böhm gemein, dass er mit Licht Stimmungen auslösen und Geschichten erzählen will. Aber wo Nouvels  Repertoire an  „illustrativem Licht“ vom Kerzen- bis zum Flutlicht reicht und er Architektur als beleuchtete Werbewände inszeniert, da ist für Gottfried Böhm weniger mehr.

In weiten Bereichen seiner Architektur und seinem Umgang mit Licht läßt sich Gottfried Böhm mit Louis Kahn vergleichen. Das gilt besonders für die grossen Mauerflächen von Böhms Betonkirchen der 60iger. Diese religiösen Trutzburgen mit ihren unverletzten Mauerflächen, deren spärliche Öffnungen nur wenig Licht in das Innere hineinlassen und dieses Licht auch nicht auf eine Wand lenken, sondern verteilen und diffundieren., verbinden Böhm und Kahn.Während der Betrachter draussen die Begegnung von Bauwerk und Licht erfährt, wird diese im Innenraum von Kahns monumentalen Bauten als eine ihn umfassende Einheit erlebt. Relief,Textur, Farbigkeit, Grösse und Rhythmus einer Wand und ihrer Öffnungen ist entscheidend dafür, wie Licht im Innenraum umgewandelt wird. Allerdings baut Böhm nicht so lichthungrig wie das durchgehend für das Werk von Kahn gilt. Und die Affinität zu Kahn gilt auch nur für Böhmische Bauten einer bestimmten Zeit. Für Kahn ist typisch ,daß nie zuvor in der modernen Architektur dem Licht soviel Resonanzraum zugestanden wurde wie bei ihm.“Das Bauwerk als Lichtbotschaft, die Baustoffe als Empfänger und Verstärker, die Räume als Sammler und Behüter, die Flächen als Transformatoren und Moderatoren“, beschreibt es Auer. Von einem „puristischen Licht“, wie Auer es im Falle von Kahn beschreibt, möchte man bei Böhm nicht sprechen. Dennoch - nicht in Leichtigkeit, Helligkeit und Transparenz sind Böhm und Kahn zu vergleichen, sondern daran, wie sie beide an der widerstandsfähigen Schwere und Dichte dunkler Materie das Licht aktivieren.

Die Kirche in Neviges ist vielleicht das großartigste Beispiel im Werk Böhms hinsichtlich der Frage, wie Form und Konstruktion eines Bauwerkes vom Licht interpretiert werden. Die Wallfahrtskirche ist ein Meilenstein, ein magischer Ort auch für Nichtgläubige. Der kristalline Bau ist wie aus einem monolithischen Guß...Svetozar Raev schreibt dazu: „Die Größe des Bauvolumens und die Schwere des Baumaterials verankern ihn optisch so am Boden, als wäre er ein Sproß der Erde.“ Innen erscheint die Gestalt der Betonschale wie eine Negativform, deren mächtige plastische Gliederung wie ein bewegter Himmel wirkt.
Nun würde man erwarten, wie Raev schreibt, daß die Lichtführung hier im oberen Teil der Kirche am stärksten sei, um die Konstruktion zu betonen. Genau das tut Böhm nicht. Vielmehr führt er über kleine Gauben das Tageslicht ein, das spärlich und zerstreut eine Zone von diffusem Licht bildet, das die kraftvolle plastische Gliederung des Domes geradezu verschleiert. „Daraus ergibt sich eine faszinierende mystische Stimmung, die sich durch die Intensivierung der Lichtstärke nach unten stufenweise langsam abschwächt, bis sie sich auf der Ebene der großformatigen Glasfenster in einer feierlichen lebensbejahenden Stimmung auflöst“. Die glühenden Rosen der Fenster sind ein Symbol der Gottesmutter Maria. Böhm liebt sie und variiert die Rose in seinen zahlreichen Kirchen immer wieder anders, aber immer in diesem atemberaubenden Rot …

Die Lichtmystik der großen Kathedralen und Dome hat eine lange Tradition. Die Romanik lockte das Licht durch kleine Fenster in ihre grossen Räume, die gotischen Kirchen waren in der Reduktion ihrer Konstruktion und ihrer großen Glasfenster selbst Lichtwunder. Immer ging es darum, Lichtstrahlen zur Ehre Gottes, des Urhebers allen Lichtes, in das Innere der Gotteshäuser zu holen…

In der Neviges-Kirche erfüllen diese Funktion nur die Glasfenster, deren intensiv bunte Ornamentik mit ihrer Ausstrahlung die abweisende Haltung der Betonwände überwindet  Nicht zuletzt deshalb nennt Wolfgang Pehnt Neviges eine emotional in hohem Maße beeindruckende, „mit magischem Farblicht inszenierte Gottesburg“…

Wenn das natürliche Licht in Neviges am Ende eines Tages verschwindet werden um den Altar herum einfache Straßenlampen angemacht, wie sie auf städtischen Plätzen stehen. Dann wird die eigentliche Idee dieser Wallfahrtskirche deutlich, denn das Innere ist als großer gedeckter Stadtplatz mit gewöhnlichem Straßenpflaster konzipiert, der umstanden ist von Emporen, Balkonen und Kapellen.

Es ist ein Platz im Dämmer, dessen überwältigendes Dach wie im Nebel eines Felsmassivs verschwindet. Um diesen Raum des Kircheninneren zu erreichen, muß man ihn durch einen niedrigen Haupteingang betreten, der einem im wahrsten Sinne des Wortes das Haupt beugt.
Im Hauptraum angekommen erschliessen sich einem erst nach und nach dessen gewaltige Dimensionen. Durch eine helle rückwärtige Beleuchtung treten die Emporen zu beiden Seiten des Marktplatzes scharf konturiert hervor und scheinen im Dämmer des gewaltigen Raumes zu schweben. Die polygonalen Stützen, die kantigen Wandsegmente dieser Emporen mit ihren Fenstern und Balkonen gehen mit den sichtbaren Faltungen der Decke eine Verbindung ein, die dem Besucher den Eindruck vermittelt, als stünde er im Inneren eines scharfkantigen Kristalls, in dem das Rot der Fenster wie Feuer brennt.
Manfred Sack fasst das überwältigende Raumerlebnis dieser Kirche zusammen: „…Wer allein darin ist, fühlt sich dennoch nicht verloren. Neviges ist wahrscheinlich der letzte große Dom. Seine innere Gelassenheit erinnert an das Pantheon“.

Im Werke Gottfried Böhms bleibt Neviges einzigartig, doch auch die kleineren Betonkirchen der 60iger Jahre machen deutlich, wie sehr Licht leblose Materie verändern und vibrierend lebendig lassen werden kann.
In St. Gertrud in Köln (1960-67) stehen Licht und Form, Immaterielles und Materielles einander nicht gegenüber, sondern in einem sich gegenseitig belebenden Austausch miteinander. Das an sich unsichtbare Tageslicht, das durch die großen Fenster in den höhlenartig, kristallin gebrochenen Raum eintritt, findet in der Körnigkeit der großen Betonwände des Innenraumes, im dunklen Holz der Türen und Bänke und in den Bronzegittern eine physische Matrix, auf der es spielen kann und überhaupt sichtbar wird. An grauen Tagen ist das Innere von St. Gertrud ein grauer Raum, puristisch karg und beeindruckend. Aber mit der Sonne erfährt das Innere eine vitale Steigerung, so als würde die Statik spürbar bewegt. Die spannungsvolle Kirche sei dann „befreit von der unerträglichen Trivialität ihrer baulichen Umgebung, in ihr ist dann nur Raum und Licht“, urteilt der Architekturkritiker Paulhans Peters.
Den Körper des Menschen umfließen die zyklischen Fluktuationen des Tageslichtes. Anders bei der Architektur – hier spielen dieselben Fluktuationen mit der scheinbaren Unbeweglichkeit der Bauten und beleben sie. Die Dämmerung ist eine besondere Lichtzeit, die nicht „seicht ließt und schwankt, sondern in der Morgen- und Abenddämmerung geradezu in die Existenz einbricht“, so Henry Plummer. Seine Texte zu Licht und Zeit sind ebenso poetisch wie das Phänomen der Dämmerung selbst. „Seicht strukturierte Flächen verwandeln sich in der Dämmerung in epische Landschaften, ihre Nischen sind mit Schatten übersät, weiche Strukturen werden hart wie Stein, noch nie dagewesene Schatten ziehen sich aus Figuren in die Länge“. Claude Lévi-Strauss beschreibt diese Übergangszeit als eine Phase „in der die Sonne Architekt ist“. Böhms Betonkirchen der 60iger Jähre beziehen aus dieser Dämmerung einen großen Teil ihrer physischen Eindringlichkeit und Attraktion.

Gegenüber diesen unübersehbar gewichtigen Beton – Beton / Ziegelkirchen sind die Pfarrkirche in Schildgen (1956-69) und die Marienkirche in Kassel (1956-60) in einem anderen Geist entstanden. Monumental sind auch sie, Schildgen durch eine Mauer, die den Kirchenkomplex wie bei einem Kloster umgibt, Kassel durch den hohen Sockel, auf dem das Kirchenschiff ruht,  das nur über eine in diesen Sockel eingeschnittene Treppe erreicht wird. Schildgen könnte auch eine fantasievolle Moschee sein. Perforierte Schirmwände, die als Raumgitter fungieren, brechen den Einfall des Lichtes ohne größere Effekte. Ornamentierte Fenster wirken, als fiele das Licht durch einen handgearbeiteten Vorhang ins Kircheninnere.

Tageslicht verändert sich ständig, während eines Tages und im Laufe des Jahres. Das kalte weisse Winterlicht färbt die Architektur anders als das warme rötliche Licht des Herbstes. Dadurch ergeben sich immer wieder neue optische  Tönungen. Nirgendwo wird das deutlicher als bei Bauten mit Zenithlicht. Der berühmteste ist zweifellos das Pantheon in Rom mit seiner Kuppel. Am obersten Punkt dieser Kuppel fällt Tageslicht durch das Auge ein. Es gibt Momente, wo sich bei leichtem Sonnenregen die Atmosphäre im Innenraum zu etwas Greifbaren zu verdichten scheint. Einerseits wirkt die Kuppel geschlossen, andererseits gibt das Auge den Blick auf den Himmel frei. Dadurch beherrscht das wechselnde Tageslicht den Raum, und zwar als Sonnenstrahl, der entsprechend dem Stand der Sonne wie ein gerichteter Finger im Laufe des Tages die Innenwände des Pantheons abtastet, erhellt und färbt. An Tagen mit bedecktem Himmel bildet sich unter dem Auge auf dem Fußboden ein matter Lichtsee, der heller ist als der umgebende Raum ...

Wenn Gottfried Böhm mit Zenithlicht arbeitete, tat er dies auf unterschiedliche Weise, ohne historische Formen nachzuahmen. Am heitersten ist ihm dies bei der Wallfahrtskirche von Wigratzbad (1972-76) gelungen. Zwölf Pilgerzelte aus Glas und Stahl umstehen den erhöhten Mittelteil der Kirche. Schlanke Stahlsäulen und leichte Gitterstreben bilden das rötlich lackierte Gerüst für den weiten, aus Sechsecken gebildeten Hallenraum mit grünen Blechdächern. Sind die Betonkirchen der 60iger Jahre auf ihren dunklen Innenraum konzentriert, so öffnet Böhm in Wigratzbad einen ungehinderten Blick in die Allgäuer Landschaft. Der Raum ist sprühend lebendig und lichtdurchflutet. Die fließenden Effekte des Tageslichtes tun ein Übriges, den Raum immer wieder anders zu beleben, Durch die Oberlichter der mit Acrylglas gedeckten Pavillons fällt das Licht des Himmels buchstäblich in den Bau hinein und macht ihn zu einem Ort, der fröhlichste und liebenswürdigste des ganzen Allgäus ist, weder Tempel noch Zirkuszelt…

Bei aller Transparenz gelingt Böhm dennoch der Eindruck eines bergenden Gehäuses, eigentlich ein Widerspruch in sich, nicht jedoch bei diesem Architekten.

Gottfried Böhm begann in den 1970er Jahren mit dem Bau transparenter Häuser, von denen das Verwaltungsgebäude der Baugesellschaft Züblin  (1981-85) das eindrucksvollste ist. Als mächtige Basilika mit einer gewaltigen Glashalle zwischen zwei Steinhäusern ist sie in der Reihe der von Böhm errichteten Verwaltungsbauten ein ähnlicher Meilenstein, wie es Neviges für die Kirchen ist.

Das Züblinhaus scheint aus reiner Raumlust entstanden. Alles Schwere ist in diesem Haus ersetzt durch Transparenz, konstruktive Logik und nüchterne Einfachheit. Der Bau hat zwei mächtige Seitentrakte, in denen die Büros liegen, und einen zurückgesetzten Mittelteil, der mehr als ein Drittel des umbauten Raumes umfasst: eine immense, luftig-leichte Halle, die ein grosses Stück Himmel einfängt und so für alle Lichtatmosphären offen ist. Die ruhige Symmetrie des Baus verleiht ihm einen Hauch von Klassizität, angereichert durch das Zusammenspiel von Transparenz und Spiegelung … Der Züblinbau gehört zu den modernen Glashäusern, die je nach Lichteinfall zu schweben scheinen und deren Existenz eigentlich nur in ihrem Schattenwurf erkennbar ist. Der berühmteste Vorgängerbau ist hier der Kristallpalast aus dem Jahre 1851. Der erste moderne Bau, dessen Transparenz nur im Schattenwurf der endlosen Holzsprossen sichtbar wurde, welche die Rahmen für das Glas bildeten.

Licht ist der Schlüssel zum Züblinhaus. Im Wechsel des Lichtes des Tages und der Jahreszeiten ist es ein Gefäß der wandernden Schatten. Das Licht ist überall und kommt von allen Seiten. Es fällt auf Wände, Böden, Brücken und Treppen und zeichnet als klares Linienmuster die konstruktiven Strukturen nach: ein städtischer Platz, als den Böhm diesen Innenraum konzipiert hatte. Die Nordsüdachse dieser Verwaltungskathedrale des Lichtes  verhindert die ununterbrochene  Bestrahlung der Glashalle, das Zurücksetzen des obersten Geschosses erlaubt eine längere und tiefere natürliche Beleuchtung.

Ein ganz anderer Bau, an dem Böhm erstmalig eine bis dahin seinem Werk fremde Transparenz realisiert hat, war das Diözesanmuseum in Paderborn (1969-86), einer der faszinierendsten Bauten Böhms. Das von ihm als großer Behälter konzipierte Museum nannte Peter M. Bode „ die konsequenteste Antwort der zeitgenössischen Architektur auf die Fragen nach dem offenen Museum“. Die Skulpturen badeten sozusagen im Licht. Sie umstanden einen hohen offenen Raum auf unterschiedlichen Sockeln und Ebenen. Wer sich über Terrassen, Stufen, Podeste und Galerien auf den Weg durch diesen unglaublichen Raum machte, der begegnete dem „freihändig präsentierten Domschatz“ im vollen Sonnenlicht. Diesen einmalig schönen Raum gibt es nicht mehr. Bauschäden und Baufehler führten zu unglücklichen Renovierungen und zerstörten einen der schönsten Lichträume Böhms.